# taz.de -- Asylbewerber in Bayern: „Ich warte, du wartest, er wartet“ | |
> Im fünften Jahr in Folge wächst die Zahl der Asylbewerber in Deutschland. | |
> Genügend Unterkünfte gibt es für sie nicht. Das zeigt sich auch in | |
> Bayern. | |
Bild: Willkommen? Zentrale Annahmestelle für Asylbewerber im bayrischen Zirndo… | |
MÜNCHEN dpa | Arsalan würdigt den Topf neben ihm keines Blickes. Zwei Meter | |
stehen die gerade gekochten Nudeln im kargen Raum entfernt – sie sind dem | |
jungen Afghanen in diesem Moment egal. Die Geschichte, die er erzählen | |
möchte, ist ihm zu wichtig. | |
Arsalan Rahimi ist 15 Jahre alt und mit seiner Mutter aus seiner Heimat bei | |
Kundus geflohen. Einen Monat lang waren sie unterwegs, bis sie vor zwei | |
Wochen in der Baierbrunner Straße im Südwesten Münchens ankamen. Hinter | |
ihnen liegt Schreckliches – vor ihnen eine ungewisse Zukunft als | |
Asylbewerber in Deutschland. | |
„Was Sie gestern Abend in den Nachrichten sehen, spielt sich mit zeitlicher | |
Verzögerung hier ab“, beschreibt Heimleiter Roland Endlicher das, was ihm | |
hier täglich begegnet in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber, wie | |
es in korrektem Amtsdeutsch heißt. Zwei solche Häuser gibt es in Bayern: | |
eins in München, eins in Zirndorf bei Nürnberg. Die mittelfränkische | |
Einrichtung ging im Herbst durch die Medien, weil sie aus allen Nähten | |
platzte und sogar Zelte aufgestellt werden mussten. | |
So schlimm ist es an diesem Tag in der Baierbrunner Straße nicht: Es gibt | |
500 Plätze – und 800 Asylbewerber leben jeweils bis zu drei Monate hier. | |
„Gut gefüllt“, nennt das der Heimleiter. Vom Zelteaufstellen sei man aber | |
noch weit entfernt. | |
## 50.000 Asylbewerber erwartet | |
Trotzdem: Die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland ist 2012 das fünfte | |
Jahr in Folge angewachsen. Nach Angaben des bayerischen Sozialministeriums | |
bundesweit im ersten Halbjahr um 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es | |
wird immer enger in den Einrichtungen der Republik. 2007 waren es noch | |
weniger als 20.000 Menschen, die Schutz suchten – dieses Jahr dürften es | |
etwa 50.000 sein. Im Fokus stehen Asylbewerber aus den Balkanländern. Es | |
seien vor allem Serben und Mazedonier, die kommen, obwohl sie keine echte | |
Chance auf die Bewilligung ihres Antrags haben, kritisiert der | |
Innenminister. | |
Von den vielen Neuankömmlingen ist in der Baierbrunner Straße in | |
München-Sendling am Vormittag noch nicht viel zu sehen. Am Ende eines | |
leeren, von Leuchtstoffröhren erhellten Ganges ist die Tür zu Raum 117 fest | |
geschlossen. Dahinter sitzen Arsalan und seine Mutter Rahila Rahimi seit 13 | |
Tagen. Ein Asylbewerberheim ist zwar kein Gefängnis, die Türen sind | |
jederzeit offen. Trotzdem setzen Mutter und Sohn selten einen Fuß über die | |
Schwelle. | |
„Wir gehen nirgendwo hin“, sagt Arsalan in gebrochenem Englisch. Nur zum | |
Gesundheitsamt müsse er öfter mit seiner Mutter, um ihre Herzprobleme | |
behandeln zu lassen. Die Frau mit dem braunen Kopftuch wirkt mitgenommen, | |
fast abwesend: Ihr Gesicht ist ausgemergelt, an den dürren Händen spannt | |
die Haut über die Knochen. | |
## Schwestern sind verschwunden | |
Der 15-Jährige Arsalan lächelt freundlich, strahlt aber auch eine tiefe | |
Verunsicherung aus. „Ihr wisst, dass wir Krieg haben“, beginnt er | |
zögerlich. Im Norden Afghanistans, einige Kilometer außerhalb der Stadt | |
Kundus, hatten Arsalans Eltern eine Landwirtschaft. Dort, wo seit Jahren | |
deutsche Soldaten stationiert sind, liegt einer der fruchtbarsten | |
Landesteile. Kühe hätten sie gehalten und Gemüse angebaut, erzählt der | |
15-Jährige. Dann starb sein Vater – warum und wie, das erzählt Arsalan | |
nicht. Nur soviel: „Es gab Sicherheitsprobleme.“ | |
Mutter Rahimi fasst den Entschluss, das gemeinsame Haus zu verkaufen – um | |
genug Geld für die längste Reise ihres Lebens zu haben. Mit ihrem Sohn und | |
den zwei Töchtern macht sie sich über Masar-i-Sharif auf den Weg nach | |
Norden. Durch Usbekistan und Kasachstan geht es zu Fuß, mit dem Schiff und | |
per Auto nach Russland. Dort geraten sie an Schleuser. Wochenlang sind sie | |
unterwegs, fahren tagsüber in Transportern und schlafen nachts in | |
Stützpunkten. Die unbekannten Männer behandeln sie grob, schreien sie an | |
und zerren sie dahin, wo sie sie gerade haben wollen. | |
Arsalans Schwestern werden von den Männern eines Tages in ein anderes Auto | |
gesetzt – und sind von da an verschwunden, erzählt er. Als die Mutter | |
merkt, bei welchem Teil der Geschichte ihr Sohn angelangt ist, fängt sie | |
an, laut zu schluchzen. Der Junge redet weiter: Er hoffe, dass seine | |
Schwestern irgendwo anders in Deutschland untergekommen seien. Seine Mutter | |
scheint dagegen verstanden zu haben, wie illusorisch diese Hoffnung ist. | |
Sie trocknet die Augen an ihrem Kopftuch. | |
## Ungewissheit und Angst vor Abschiebung | |
In den Flur vor Zimmer 117 kommt während des Gesprächs Leben. Die ersten | |
Asylbewerber machen sich auf den Weg in die Küche. Die 23-jährige Rashidat | |
aus Nigeria wendet über einer der tragbaren Herdplatten in einer Pfanne | |
brutzelndes Hühnchenfleisch. Über jedem Gerät ist an der Wand ein grüner | |
Schalter angebracht. Ein Knopfdruck bringt einige Minuten Strom für die | |
Kochstelle. Um Brände zu verhindern, schalten sich die Herde nach einiger | |
Zeit automatisch ab. | |
Die Monate, manchmal Jahre der Ungewissheit und Angst vor Abschiebung | |
werden zu einer Geduldsprobe, die oft in Verzweiflung endet. Im Sommer | |
nähten sich in Würzburg Iraner aus Protest die Münder zu. Eine andere | |
Gruppe aus Franken marschierte Mitte Oktober zu Fuß nach Berlin, um mit | |
einem Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor für ihre Rechte zu | |
demonstrieren. | |
Einen langen Marsch braucht es nicht, um nach Brunnthal zu kommen - eine | |
kurze S-Bahn-Fahrt in den Münchner Speckgürtel genügt. Am Horizont erheben | |
sich vor weiten Tannenwäldern die puderzuckerweiß verschneiten Alpen. | |
## Alarm wegen 50 Flüchtlingen | |
„Bei uns ist die Welt noch in Ordnung!“, hatte der örtliche Vorsitzende der | |
Jungen Union in der Süddeutschen Zeitung gesagt. Im Herbst erregte der | |
Nachwuchspolitiker mit einem Flyer Aufsehen. Der 26-Jährige warnte seine | |
1.700 Mitbürger im Dorf vor mehr Kriminalität und einer Minderung der | |
Grundstückswerte – weil in der Dorfgaststätte 50 Flüchtlinge einquartiert | |
werden sollten. Die Brunnthaler versetzte er damit in Alarmbereitschaft. | |
Bürgermeister Stefan Kern sitzt an seinem Schreibtisch in der Brunnthaler | |
Ortsmitte – an der Wand gegenüber hängt ein Kruzifix. Natürlich würde man | |
Flüchtlinge aufnehmen, betont er. „Wir erfüllen unsere Aufgabe.“ Aber nur | |
im Rahmen der Möglichkeiten. Für 40 bis 50 Menschen, die auch aus dem | |
Münchner Heim kommen könnten, fehlten die Ressourcen. Nun werden wohl erst | |
einmal maximal 15 Asylbewerber nach Brunnthal ziehen. | |
CSU-Mann Kern wurde mit 62,5 Prozent der Stimmen gewählt und weiß, wie die | |
Leute hier ticken. Die Stimmung im Dorf sei getrübt. Einerseits sei da das | |
Stigma der Ausländerfeindlichkeit – ungerechtfertigterweise, wie er findet. | |
Andererseits die Angst, zu viel Fremdes könnte die traditionsbewusste | |
Gesellschaft des Dorfes mit Trachten- und Sportverein und freiwilliger | |
Feuerwehr verändern. Das fange schon in den Nachbarsiedlungen an: „Die | |
Otterloher oder die Brunnthaler sind für Faistenhaarer schon manchmal | |
Fremde“, versucht Kern zu erklären. Fremdenfeindlich sei hier aber keiner. | |
## Begehrte Deutschkurse | |
In der Asylpolitik ist die Europäische Union tief zerstritten. Gemeinsame | |
Mindeststandards für die Aufnahme sind erst einmal auf 2013 vergeschoben. | |
Die Flüchtlinge protestieren aus Wut und Furcht auf der Straße. Manche | |
Deutsche wiederum haben Angst, dass mit den Fremden hierzulande der | |
Wohlstand zurückgehen oder das Bildungsniveau sinken könnte. Bei einem | |
Besuch in einem Asylbewerberheim sagte Bundespräsident Joachim Gauck Mitte | |
Dezember: „Wer meint, dass ihm durch die Asylbewerber etwas weggenommen | |
wird, der irrt.“ | |
Der junge Arsalan kennt die schwelende Diskussion nicht. Er hat einen | |
schweren Weg vor sich. Sein Traum ist es, Ingenieur zu werden und sich in | |
Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Erst einmal werde er aber einfach | |
hier sitzen bleiben – so wie alle anderen auch. „Ich will Deutsch lernen", | |
kündigt der 15-Jährige an. "Es ist schwierig, in einem Land zu leben und | |
die Sprache nicht zu können.“ | |
Für den Deutschkurs im Haus braucht Arsalan nur einen Flur hinauf und eine | |
Treppe hinab zu laufen. Auf einer Tafel steht aus der letzten Stunde: „Ich | |
komme aus dem Senegal, aus Mazedonien, aus Nigeria, aus Sierra Leone, aus | |
Afghanistan.“ | |
Daneben prangen Vokabeln, die zur ersten Lektion in der Baierbrunner Straße | |
gehören. „Ich warte, du wartest, er wartet“, steht dort durchkonjugiert. | |
Die Bedeutung dieser Worte haben Arsalan und seine Mutter längst | |
verstanden. | |
8 Jan 2013 | |
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