# taz.de -- Forscherin über 30-Stunden-Woche: „Wir brauchen Zeitkonten“ | |
> Die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche sei nicht „zielführend“, sagt | |
> Forscherin Karin Jurczyk. Sie plädiert für Budgets, „die wir über den | |
> Lebenslauf verteilen“. | |
Bild: Arbeiten wie es zum Leben passt: Helga Weyhe steht mit 90 Jahren noch in … | |
taz: Frau Jurczyk, wenn der Ruf nach einer 30-Stunden-Woche so absurd ist, | |
wie Schwarz-Gelb und die Arbeitgeber meinen, warum verursacht das Thema | |
trotzdem so viel Aufruhr? | |
Karin Jurczyk: Weil es den Finger in die Wunde legt. Wir haben einerseits | |
in immer mehr Feldern der Erwerbsarbeit massive Überforderungssyndrome und | |
Erschöpfungsphänomene – da liegt es für viele Menschen nahe, an | |
Arbeitszeitverkürzung zu denken. Andererseits gibt es eine deutliche | |
Ungleichverteilung der Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern und | |
Generationen. Insofern verbirgt sich hinter der Debatte auch die Frage, wie | |
können Frauen und Männer geschlechtergerechter an der Erwerbsarbeit und an | |
der Care-Arbeit, der Betreuung von Angehörigen, teilhaben. | |
Die UnterzeichnerInnen des offenen Briefs fordern eine | |
gesamtgesellschaftliche Debatte, ihre Argumente kreisen aber vor allem um | |
verteilungspolitische Fragen. Vergeben sich die AutorInnen die Chance, das | |
Feld der Geschlechtergerechtigkeit offensiv zu besetzen? | |
Ich finde den Aufruf sehr verkürzt, und das ist mehr als bedauerlich. Wir | |
brauchen unbedingt eine große gesellschaftspolitische Debatte über das | |
Thema. Aber die würde ich am Phänomen der Ungleichverteilung zwischen den | |
Geschlechtern und der Frage der Lebensqualität festmachen. | |
Sie werden wohl wenig besänftigt durch den Hinweis einiger Kritiker des | |
Briefs, wir hätten doch fast Vollbeschäftigung, das sei die Hauptsache. | |
Diese Einschätzung ist wirklich absurd. Wir haben massive | |
Arbeitszeitprobleme. Die Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit der letzten | |
Jahre geht vor allem auf das Konto der Teilzeitbeschäftigung und speziell | |
der 400-Euro-Minijobs, also niedrig bezahlte, nicht abgesicherte | |
Tätigkeiten, die geradewegs in die Altersarmut führen. Kein Wunder, dass | |
sich viele Frauen wünschen, mehr zu arbeiten, nämlich an die 30 Stunden. | |
Wie würden Sie eine Forderung nach Arbeitszeitverkürzung angehen? | |
Für mich ist der Ruf nach einer 30-Stunden-Woche nicht zielführend. Das ist | |
eine viel zu starre Schablone. Wir haben doch über das Leben verteilt sehr | |
unterschiedliche Arbeitszeitbedürfnisse, je nachdem, ob die Kinder noch | |
klein sind oder ob wir Angehörige pflegen. Wir bräuchten vielmehr | |
sogenannte Carezeitbudgets, die wir über den Lebenslauf verteilen können. | |
Wie genau soll das gehen? | |
Man sollte Zeitkonten haben, vielleicht insgesamt über fünf Jahre, | |
innerhalb derer man sagen kann, jetzt reduziere ich auf eine | |
Dreiviertelstelle, jetzt unterbreche ich ein Jahr. Das Instrument muss | |
flexibel und selbstbestimmt sein. | |
Aber man kann ja nicht für alles vor- oder nacharbeiten, zumal, wenn der | |
Arbeitgeber wechselt. | |
Deswegen müssen wir über eine steuerfinanzierte Unterstützung nachdenken, | |
wie beim Elterngeld. Klar ist jeder erst mal selbst für sein Auskommen | |
verantwortlich, aber die Betreuung oder Pflege von Alten und Kindern ist | |
gesellschaftlich relevante Arbeit, die uns etwas wert sein muss. Mit solch | |
einem Modell individueller Zeitbudgets für unterschiedliche Zwecke wäre | |
auch die Chance viel größer, dass auch Männer davon profitieren. Wir | |
brauchen einen atmenden Lebensverlauf. Damit reden wir aber über etwas | |
anderes als der offene Brief, der ja für eine Umverteilung von | |
Produktivitätserträgen wirbt. | |
15 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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