| # taz.de -- Der Papst und sein schärfster Kritiker: Wir sind müde | |
| > Hat Gott Humor? Papst Benedikt XVI. gibt sein Amt auf. Und Karlheinz | |
| > Deschner, der schärfste Kritiker des Christentums, schließt sein Opus | |
| > magnum ab. | |
| Bild: Besucher auf dem Petersplatz im Vatikan beim letzten Angelus-Gebet. Der P… | |
| „Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur | |
| Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht | |
| mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.“ | |
| So sprach’s Benedikt XVI., der „emeritierte Bischof von Rom“, wie sein | |
| Titel dann ab dem 28. Februar 2013, 20 Uhr, lauten wird. | |
| Ein Burn-out? Auf jeden Fall kein Einzelschicksal. Denn andere ermüden im | |
| hohen Alter ebenfalls am übergroß abgesteckten Lebenswerk. | |
| ## Radikaler Kirchenkritiker | |
| Karlheinz Deschner (geb. 1924) ist so ein Benedikt-XVI.-Leidensgenosse. Und | |
| obendrein wird der von „allen Kirchenkritikern unseres Jahrhunderts | |
| belesenste, radikalste und leidenschaftlichste“ (SZ) zum unfreiwilligen | |
| Anwalt eines humorvollen Gottes: | |
| Denn wie viel Spaß muss es dem Allmächtigen gemacht haben, dass er es | |
| ausgerechnet dem schärfsten und größten lebenden Kritiker des Christentums | |
| gestattet, nur wenige Tage nach Abdankung seines ersten Hirten „Die | |
| Kriminalgeschichte des Christentums“ mit dem zehnten Band zu vollenden? | |
| Deschner ist nur wenig älter als Papst Benedikt (geb. 1927), aber beide | |
| sind älter, als es sich die meisten Menschen auf der Welt für sich | |
| erhoffen. Ja, der zornige Gott muss Humor haben. | |
| ## Der, der ihn anbetet muss er ziehen lassen | |
| Denn den, der ihn anbetet und täglich stundenlang ins Zwiegespräch nimmt, | |
| muss er ziehen lassen, bevor der seine auf Lebenszeit angelegte Aufgabe mit | |
| seinem Ableben vollendet, während er den anderen, der noch dazu Gottes | |
| Existenz ernsthaft bezweifelt, ein Opus magnum vollenden lässt, dessen | |
| Zerstörungskraft für die Zukunft des Christentums heute noch gar nicht | |
| vorhersehbar ist. | |
| Im Windschatten einer fortschreitenden Säkularisierung und des | |
| Relativismus, also auf einem denkbar schmalen Korridor einer geradezu | |
| obszönen Machtfülle der Kirche in den vergangenen knapp 2000 Jahren, | |
| schrieb ein Einzelner „Die Kriminalgeschichte des Christentums“ auf und | |
| konservierte sie so dauerhaft. | |
| Dieses gemeinsame Finale konkurrierender Lebenswerke zweier brillanter | |
| Denker kann natürlich Zufall gewesen sein – und Deschner würde darauf | |
| bestehen –, aber für gläubige Christen könnte es als Indiz taugen für ein… | |
| lachenden Gott. Es kommt auf die Sichtweise an. | |
| ## Zwei Lebenswege - zwei Buben | |
| Und die bestimmte über Jahrzehnte das Innenverhältnis unserer beiden | |
| Protagonisten: zwei Lebenswege. Zwei Buben. Der eine Bamberger Franke, Sohn | |
| eines armen Försters und Fischzüchters und Schüler des Franziskanerseminars | |
| in Dettelbach. | |
| Der andere Sohn eines gottesfürchtigen bayerischen Gendarmeriemeisters im | |
| kleinen Örtchen Marktl am Inn und Schüler am erzbischöflichen | |
| Studienseminar St. Michael in Traunstein. | |
| Beide haben in die unverbaute ländliche Natur geschaut und sich mit jenen | |
| Menschen gemeingemacht, die dort ihr einfaches Leben lebten. Als Soldaten | |
| der Wehrmacht erlebten sie die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. | |
| ## Beide gefangen im gleichen Büchertum | |
| Ratzinger studierte ab 1946 katholische Theologie und Philosophie, Deschner | |
| zeitgleich im nur 200 Kilometer entfernten Bamberg unter anderem | |
| Literaturwissenschaft. | |
| Welche Bücher die beiden parallel gelesen haben, kann man nur ahnen. Sicher | |
| ist, dass es eine große Schnittmenge gegeben haben muss. | |
| Jedenfalls haben Ratzinger wie Deschner ihr Leben unter das Kreuz gestellt. | |
| Beide gefangen im gleichen Bücherturm. Aber beide mit den denkbar | |
| unterschiedlichsten Schlussfolgerungen. | |
| ## Ratzinger der Baumeister, Deschner die Abrissbirne | |
| Betrachtet man das Christentum als ein Gebäude, an dem seit fast 2000 | |
| Jahren gebaut wird, dann ist Ratzinger so etwas wie Nachfolger der | |
| Baumeister, während sich Deschner wie die düstere Abrissbirne vorkommen | |
| muss. Totale Negation. | |
| Aber ausgestattet mit einer Anwaltschaft für Millionen namenloser Opfer | |
| dieser gewaltigsten aller gesellschaftlichen Umwälzungen, genannt | |
| Christentum. Etliche dieser Millionen Opfer hat Deschner in detektivischer | |
| Kleinarbeit für seine Kriminalgeschichte aufgespürt und „in Feindschaft“ | |
| der Kirche hingeschleudert. | |
| Da mutet es seltsam an, wenn katholische Publizisten wie Alexander Kissler, | |
| dessen Analyse „Papst im Widerspruch“ Anfang März erscheinen wird, urteilt: | |
| „Benedikt war nicht nur ein Mystiker auf dem Papstthron, sondern auch der | |
| erste Kritiker seiner Kirche.“ | |
| ## Ungeheure Anklagen | |
| Man darf annehmen, dass Vielleser Benedikt die ungeheuren Anklagen | |
| Deschners gesichtet hat, die der seit dem 1986 erschienenen ersten Band | |
| seiner Kriminalgeschichte in jedem Folgeband, und sich an jedem Jahrhundert | |
| kompromisslos abarbeitend, veröffentlichte. | |
| So wie auch Deschner die Veröffentlichungen des Papstes mit seinen | |
| „hasserfüllten Augen“, wie eine soghafte filmische Dokumentation über | |
| Deschner ironisch titelt, gelesen haben wird. | |
| Beide sind sie nun müde daran geworden. Der „Jüngere“ zusätzlich immer | |
| geplagt und gefordert von kirchlichen Ämtern bis hinauf an die Spitze | |
| seiner Weltkirche. | |
| ## „Hier habe ich die Welt im Griff“ | |
| Ingo Petz schrieb 2004 für brand eins über einen Besuch in Haßfurt bei | |
| Deschner: „ ’Hier habe ich die Welt im Griff‘, sagt er und zeigt in sein | |
| Arbeitszimmer. Das ist bis in die letzte Ecke vollgestopft mit Büchern, | |
| Papier und Akten über vergangene Menschen, vergangene Epochen, vergangenes | |
| Leben. […] Hier vergehen Tage, Monate, Jahre und Leben – in denen aus | |
| Schmidt Kohl und aus Kohl Schröder wird, aus der Bundesrepublik Deutschland | |
| und aus der DDR nichts. Während all dessen sitzt Karlheinz Deschner hinter | |
| seinem Schreibtisch, liest, denkt und schreibt, schreibt wie ein | |
| Galeerensträfling, der nicht anders kann, seit mehr als einem halben | |
| Jahrhundert, bis zu 14 Stunden am Tag, 100 Stunden die Woche, 5.000 im | |
| Jahr.“ | |
| Peter Seewald sprach mit dem Papst in dessen Sommerresidenz und wurde | |
| zunächst „durch nicht enden wollenden Räume“ geführt. „Wir warteten in | |
| einem Vorzimmer, so groß wie eine Reithalle. Kurze Zeit später öffnete sich | |
| eine Tür. Und da stand die nicht eben riesenhafte Gestalt des Papstes, der | |
| mir seine Hand entgegenhielt.“ | |
| ## Die Arbeit ist erledigt | |
| Dort in Castel Gandolfo mit Blick über den Albaner See wird der Joseph | |
| Ratzinger aus Marktl am Inn jetzt übergangsweise untergebracht, bis man im | |
| Vatikan ein passendes Quartier für den früheren Papst hergerichtet hat. | |
| Deschner wohnt weiter mit seinen Katzen im beschaulichen Haßfurt. Wie sehr | |
| er sich noch über den Trubel rund um die Vollendung des letzten Bandes | |
| seiner bei Rowohlt erscheinenden „Kriminalgeschichte des Christentums“ | |
| freuen kann, wird sicher von seiner Tagesform abhängen. | |
| Für beide Herrn ist jetzt die Arbeit erledigt. Das heißt: Eigentlich wurde | |
| dabei ein bisschen geschummelt. Denn Deschners zehnter Band endet schon um | |
| 1800, wo er ursprünglich bis in die Gegenwart reichen sollte. | |
| Aber auch diese Lücke konnte noch mit einer erweiterten Neuauflage von | |
| Deschners „Politik der Päpste“ (erscheint Ende März bei Alibri) geschloss… | |
| werden, die nun als heimlicher elfter Band der Kriminalgeschichte auch | |
| Benedikt XVI. mit aufnimmt in diesen endlosen Reigen der Kriminellen des | |
| Christentums. | |
| ## Deschner hat seinen Acker rechtzeitig bestellt | |
| Maßgeblichen Anteil an der Vollendung des Deschner’schen Werkes haben der | |
| Philosoph Michael Schmidt-Salomon, der Deschners „Politik der Päpste“ | |
| aktualisierte, und Deschner-Mäzen Herbert Steffen, der den Autor seit den | |
| 1990ern unterstützt. | |
| Gemeinsam gründeten die beiden 2004 die Giordano-Bruno-Stiftung, die | |
| Deschners Arbeit einerseits weiterführt, andererseits über sie hinausgeht, | |
| indem sie dem Christentum einen evolutionären Humanismus entgegenzusetzen | |
| beansprucht, der „entschieden für die Werte der Aufklärung, für kritische | |
| Rationalität, Selbstbestimmung, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ | |
| eintritt. | |
| Deschner hat also seinen Acker rechtzeitig bestellt. Während Benedikt XVI. | |
| aus katholischer Sicht immens viel dafür getan hat, das Unkraut aus seinem | |
| in fast 2.000 Jahren mit Schweiß, Blut und Tränen getränkten Acker zu | |
| entfernen – wenn auch nicht unbedingt als Papst, sondern als Gelehrter. | |
| So sind die alten Herren nun beide am Christentum ermüdet. Unter ganz | |
| anderen Umständen hätten sie vielleicht Freunde werden können. Und Umstände | |
| verbessern wollten sie ja beide. Nur eben jeder auf seine Weise. | |
| 27 Feb 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Wallasch | |
| ## TAGS | |
| Papst Benedikt XVI. | |
| katholisch | |
| Vatikan | |
| Papst | |
| Papst | |
| Papst | |
| Umwelt | |
| Verschwörung | |
| Katholische Kirche | |
| Papst | |
| Papst Benedikt XVI. | |
| Papst | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Zum Tode Karlheinz Deschners: Abrechnung auf 5.820 Seiten | |
| Karlheinz Deschner war über Jahrzehnte die Stimme der religionskritischen | |
| Vernunft in Deutschland. Nun ist er gestorben. | |
| Skandale im Vatikan: „Eine stumme Welt“ | |
| Der Journalist Nuzzi hat die „Vatileaks“-Affäre ins Rollen gebracht. Die | |
| Kurie ist korrupt, sagt er. Und hofft, dass der nächste Papst kein | |
| Italiener wird. | |
| Papstwahl im Internet: Favoriten chancenlos | |
| Eine kanadische Internetplattform lässt Nutzer über den Papst abstimmen. | |
| Das Experiment zeigt, dass italienische Kardinäle nicht sonderlich populär | |
| sind. | |
| Kurz vor dem Konklave: Ein Hauch von Demokratie | |
| Die Auswahl des nächsten Papstes soll am Sonntag beginnen. Neu ist: | |
| Allianzen und Absprachen müssen schneller erfolgen als bei anderen | |
| Konklaven. | |
| Joseph Ratzingers Erbe: Schluss mit heilig | |
| Papst Benedikt XVI. hat in seiner Amtszeit vieles falsch gemacht. Mit | |
| seinem Rücktritt aber zeigt er der katholischen Kirche einen Weg ins 21. | |
| Jahrhundert. | |
| Oxfam-Studie: Die dunkle Seite von Cornflakes | |
| Die zehn größten Lebensmittel- und Getränkehersteller der Welt | |
| erwirtschaften täglich über 800 Millionen Euro Gewinn. Zulasten von | |
| Landarbeitern, Frauen und Umwelt. | |
| Kolumne Back on the Scene: Wir haben den Papst gefickt | |
| Die schwule Weltverschwörung ist auf dem Vormarsch. Aber warum lässt mich | |
| keiner mitmachen? | |
| Schlupflöcher der katholischen Kirche: Das Kreuz mit der Pille | |
| Papst Paul VI. begründete das Verbot der Empfängnisverhütung. Doch es gibt | |
| seltsame Ausnahmefälle, in denen die Kirche die Pille erlaubt. | |
| Heilige Begegnungen: Der Papst und wir | |
| Benedikt XVI. will nicht mehr, er tritt ab. Keine Kraft, sagt er. Na und, | |
| denken Sie? Unsere Autoren denken anders. Vier Erinnerungen. | |
| Würdigung des scheidenden Papstes: Beim Exorzisten beliebt | |
| Die amtlichen Teufelsaustreiber der katholischen Kirche stehen jeden Tag an | |
| der Front gegen Satan – Papst Benedikt war ihnen ein guter Helfer. | |
| „Wir sind Kirche“ zum Papst: „Den Vatikan hatte er nicht im Griff“ | |
| Die Reformbewegung „Wir sind Kirche“ über den Halbtags-Papst Benedikt XVI., | |
| die Auflösung hierarchischer Strukturen und die Krise der Kirche. |