# taz.de -- Neue Bücher Finanzkrise zur Buchmesse: Flüchtiger Schmierstoff de… | |
> Die Finanzkrise hat bestätigt: Das Kapital ist ein scheues Reh. Und ein | |
> dankbares Thema für die neuen Romane von Sascha Reh und Jonas Lüscher. | |
Bild: Wohin fliehen, wenn man eine Bank gesprengt hat? Gibraltar? | |
Es gab eine Zeit im Herbst 2008, da waren die Wirtschaftsseiten auf einmal | |
das Spannendste an der Zeitung. Was man dort über die Zusammenbrüche in der | |
Finanzwelt lesen konnte, blieb oft halbverständlich, gleichwohl wirkte es | |
immer noch hinreichend verstörend. Die Bankenpleiten rund um die Welt | |
schienen zugleich seltsam irreal. | |
Eigentlich waren die Handelsgüter, die im Fokus der verschiedenen Crashs | |
standen, fantastische Rechenwerke, bis sie plötzlich als handfeste Schulden | |
in die Wirklichkeit eingriffen. Allein hierzulande blieben die ganz | |
dramatischen Folgen – bisher zumindest – weitgehend aus. | |
Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass die Finanzkrise in der | |
deutschsprachigen Literatur nur vereinzelt eine nennenswerte Rolle spielt. | |
Schließlich ist sie neben den Umwälzungen in Nordafrika und dem Nahen Osten | |
eine der großen Zäsuren der Gegenwart, etwas, das auch literarisch | |
erinnert, wiederholt und durchgearbeitet sein will. | |
Andererseits könnte die nicht unerhebliche Gefahr des Scheiterns an der | |
Vorlage ein Grund für das zurückhaltende Auftreten von Schriftstellern | |
sein. Zwei Neuerscheinungen des Frühlings wenigstens finden für die | |
Turbulenzen der Bankenwelt erzählende Formen. | |
## Gebrochene Geschichten | |
Eine Bank in Familienbesitz dient in Sascha Rehs zweitem Roman „Gibraltar“ | |
als Rahmen für eine Erzählung von Verstrickungen finanzieller und | |
familiärer Art. Das Bankhaus Alberts wird in den Ruin getrieben, weil | |
dessen führender Investmentbanker Bernhard Milbrandt wilde Leerverkäufe mit | |
griechischen Staatsanleihen getätigt hat. Als seine Geschäfte scheitern, | |
ist die Bank pleite und Milbrandt spurlos verschwunden. Man vermutet ihn in | |
Gibraltar. | |
Sascha Reh reiht die Ereignisse nicht in einer durchlaufenden Chronologie | |
auf, sondern gibt jeder der zentralen Figuren ihre eigene, mitunter | |
gebrochene Geschichte. Da ist etwa der Direktor der Bank, Johann Alberts, | |
ferner dessen Sohn Thomas, der sich einst aus dem väterlichen Betrieb | |
zurückgezogen hat, weil der Vater dem „Ziehsohn“ Bernhard Milbrandt den | |
Vorzug gab, ohne zu ahnen, dass dieser sein Lebenswerk zu einem ziemlich | |
unschönen Ende bringen würde. | |
Zu den unbeglichenen Schulden kommen diverse unaufgelöste familiäre | |
Verstrickungen, fast jeder hat mit jedem irgendeine Rechnung offen. Der | |
Vater bezahlt seine mit dem Leben. | |
„Gibraltar“ bricht die Finanzkrise auf einen Familienkosmos herunter, ohne | |
sich auf eindeutige Antworten zu den verhandelten Krisen und ihren Ursachen | |
festzulegen. Reh seziert dafür das Seelenleben seiner Protagonisten mit | |
analytischer Feinheit und ebenso feinem Humor. Zudem unterscheiden sich die | |
Geschichten der einzelnen Figuren nicht nur stilistisch voneinander, sie | |
zeigen auch stark abweichende Perspektiven auf das Geschehen, | |
einschließlich des Schicksals des untergetauchten Milbrandt. | |
## Geschäftsreise in Tunesien | |
Beinahe konventionell hingegen verfährt der Schweizer Jonas Lüscher in | |
seinem erzählerischen Debüt „Frühling der Barbaren“. Zwei Insassen einer | |
psychiatrischen Anstalt machen einen Spaziergang durch den Park. Der eine, | |
der Fabrikerbe Preising, berichtet dem an Depression leidenden Erzähler von | |
den Geschehnissen, die seiner Einweisung vorangingen: Auf einer | |
Geschäftsreise in Tunesien wird Preising in einer Hotelanlage durch Zufall | |
Gast einer britischen Hochzeitsgesellschaft. | |
Durch einen weiteren Zufall stürzt über Nacht das britische Pfund ab und | |
die Gäste, mehrheitlich Investmentbanker, stehen unversehens mittellos da. | |
Wie ein Ethnologe beobachtet Preisinger zunächst die Gäste aus England, | |
ihren Habitus, mit dem sie sich unter anderem von der beruflich weniger | |
erfolgreichen Verwandtschaft abgrenzen. Lüscher reichert seine Novelle mit | |
diskretem Sarkasmus an und lässt die Handlung sehr beiläufig auf ihre | |
Katastrophe zusteuern. Als das Unglück dann über die Engländer | |
hereinbricht, macht er allerdings sehr kurzen Prozess und malt ihren | |
Rückfall in vorzivilisatorische Zustände mit leicht sadistischer Detaillust | |
aus. | |
## Rolle des Vermittlers | |
Man kann statt der großen Krisen-Erzählung auch einen anderen Weg | |
einschlagen und sich als Schriftsteller in der Rolle des Vermittlers | |
erproben. Der englische Autor John Lanchester hat beides getan. In seinem | |
2012 auf Deutsch erschienen Roman „Kapital“ fügten sich die Schicksale der | |
Bewohner einer fiktiven Straße Londons zu einem Gesellschaftspanorama um | |
Gentrifizierung und Immobilienspekulation. Jetzt folgt mit „Warum jeder | |
jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt“ ein Sachbuch, das | |
auf Vorarbeiten zu „Kapital“ beruht und in dem er „Die bizarre Geschichte | |
der Finanzen“ schildert. | |
Lanchester möchte aufklären, denn für ihn ist die gegenwärtige Krise alles | |
andere als eine bloße Frage von zukünftigem Wohlstand: „In seiner | |
derzeitigen Form stellt das Finanzsystem eine größere Bedrohung für die | |
westlichen Demokratien dar, als es der Terrorismus je sein könnte.“ Zu | |
diesem Zweck gibt Lanchester eine für Laien allgemeinverständliche | |
Beschreibung der Arbeitsweise von Banken, wie sie mit Krediten Geld | |
verdienen, wie Risiken ihre Geschäftsgrundlage bilden – und welche | |
gesamtgesellschaftlichen Gefahren darin stecken. | |
Wie er selbst sagt, hat ihn sein Vater am stärksten zu dem Buch inspiriert. | |
Der habe für eine Bank gearbeitet und seinen Job gehasst. Lanchester gibt – | |
in einem für die deutsche Ausgabe ergänztem Epilog – sogar konkrete | |
Empfehlungen an Merkel aus Sorge um die Zukunft des Euro. So kritisiert er | |
ausdrücklich Merkels abwartende Haltung und empfiehlt Eurobonds als | |
einzigen Weg aus der Eurokrise. | |
## Kampf um Ressourcen | |
Finanzkrisen sind bekanntlich nicht die einzigen Nöte dieser Zeit. Wie zur | |
Erinnerung an das drohende Ende eines anderen, womöglich zentralen | |
Schmierstoffs der Wirtschaft erscheint jetzt eine Neuübersetzung von Upton | |
Sinclairs Klassiker „Öl!“: Fabriken können – theoretisch wenigstens –… | |
Geld zum Laufen gebracht werden, doch nicht ohne Öl. | |
Für den US-Amerikaner Sinclair war die Begrenztheit der Erdölvorkommen im | |
Jahr 1927 zwar nur eingeschränkt von Bedeutung, ihm ging es hauptsächlich | |
um Fragen von Ausbeutung und gerechteren Alternativen zum Kapitalismus. | |
Heute aber liest sich sein Buch, das in Teilen als Vorlage zu Paul Thomas | |
Andersons Film „There Will Be Blood“ (2007) diente, vor dem Hintergrund des | |
Kampfs um die letzten Reserven dieses Rohstoffs – und in Andrea Otts | |
flüssiger Übertragung – ganz anders. | |
## „Gibraltar“. Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2013, 464 | |
Seiten, 22,95 Euro | |
## „Frühling der Barbaren“. C. H. Beck, München 2013, 125 Seiten, 14,95 | |
Euro | |
## „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt. | |
Die bizarre Geschichte der Finanzen“. Aus dem Englischen von Dorothee | |
Merkel. Klett-Cotta, Stuttgart 2013, 302 Seiten, 19,95 Euro | |
## „Öl!“ Aus dem Amerikanischen von Andrea Ott. Manesse Verlag, Zürich | |
2013, 768 Seiten, 34,95 Euro | |
14 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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