# taz.de -- 10 Jahre nach dem Irakkrieg: Ein komplett gescheiterter Staat | |
> Das Land ist von einem funktionierenden Rechtsstaat weit entfernt. Zehn | |
> Jahre nach dem Irakkrieg zeigt sich eine niederschmetternde Bilanz. | |
Bild: Ob der Auftrag wirklich ausgeführt wurde, ist Ansichtssache. | |
Vor zehn Jahren, am 20. März 2003, drangen US-amerikanische Marines und die | |
Landstreitkräfte der britischen-imperialen Krone, in deren Territorien die | |
Sonne seit einem halben Jahrhundert nicht mehr aufgegangen ist, in | |
irakisches Gebiet ein – unter dem Vorwand, die Fackel der Demokratie ins | |
Land tragen zu wollen, und mit dem starken Argument, nach | |
Massenvernichtungswaffen zu suchen. | |
Aber, statt das eine ins Werk zu setzen und die anderen zu finden, haben | |
sie Angst und Zerfall über das Land gebracht. Wer hoffte, dass die USA die | |
von ihnen propagierte Demokratisierung und den Wiederaufbau unterstützen | |
würden, und sei es aufgrund ihrer eigenen Interessen im Geiste des | |
sogenannten Kriegs gegen den Terror, wie sie es schon im Krieg gegen den | |
Kommunismus getan haben, als sie den Aufbau Japans und Deutschlands | |
unterstützten –, wer das annahm, wurde in seinem Glauben enttäuscht. | |
Wer heute im Irak lebt oder wer sich in den Straßen Bagdads umschaut, | |
braucht weder Theoretiker für Demokratie noch Spezialist in Wirtschaft oder | |
Politik zu sein, um sich ein anschauliches Bild von dem Chaos und dem | |
Verfall zu machen, die allerorts um sich greifen. Getoppt wird dieser | |
Eindruck noch von Straßen und Brücken voll tiefer Rillen im Asphalt, | |
Schulen mit gähnenden Löchern anstelle von Türen, Krankenhäusern in | |
katastrophal unhygienischem Zustand und völlig versumpften Spielplätzen. | |
Das ganze Land scheint dem Verfall preisgegeben zu sein. Kein Müllauto oder | |
Müllmann kommt je vorbei, denn die Stadt- und Gemeinderäte sind, ganz nach | |
dem Vorbild ihrer Parlamentarier und Minister, viel zu sehr mit dem | |
Plündern befasst. Sie haben gar keine Zeit für den Aufbau. Ein im Irak | |
verbreitetes Bonmot fordert mittlerweile die Einrichtung eines eigenen | |
„Ministeriums für Bestechliche und Fälscher“. | |
## Pure Enttäuschung | |
Hunderte von Milliarden US-Dollar hat der irakische Haushalt in den letzten | |
neun Jahren ausgemacht. Nichts von diesen Geldern spiegelt sich in den | |
Straßen des Landes wieder! Und vor allem: keine Sicherheit. Die Iraker | |
müssen damit leben, dass ihre Wege zur Arbeit ein Abenteuer bleiben und sie | |
oft dem Schicksal in Gestalt eines unbekannten Feindes ausgeliefert sind. | |
Die Bilanz von zehn Jahren ist eine pure Enttäuschung. Die Verfassung, für | |
die die Iraker gestimmt haben, ist lediglich ein fader, blasser Kaugummi, | |
auf dem Politiker und selbst ernannte Vertreter der Konfessionen und | |
Nationen in ihren Streitigkeiten ständig wieder herumkauen, eine inhaltlose | |
Lügenmaschinerie von Paragrafen, denen keiner große Aufmerksamkeit schenkt. | |
Es ist auch eine traurige Wahrheit, dass die jetzige Regierung, die per | |
Kaiserschnitt nach achtmonatigen Verhandlungen zur Welt kam, sich | |
hinsichtlich der ihr zugestandenen Befugnisse in nichts von den letzten | |
Regierungen unterscheidet. Ja, sie verfügt sogar über noch weniger | |
Handlungsspielraum. Dies liegt nicht nur an den Auseinandersetzungen, die | |
sich um die Regierungsbildung entzündeten. Sie ist zwar eine große | |
Enttäuschung für die Iraker, die trotz Terror und paramilitärischer Banden | |
ihr Leben riskierten, um den dritten „freien“ Wahlen im Irak nach 2003 zum | |
Erfolg zu verhelfen. Doch die Schwäche der jetzigen Regierung deutet | |
vielmehr auf die miserable allgemeine politische Kultur. | |
## Macht als Beutestück | |
Es stand zu erwarten, dass es Auseinandersetzungen geben würde. Die | |
politischen Kräfte des Landes hätten unter den gegenwärtigen Umständen | |
außergewöhnliche Anstrengungen und Verantwortungsbewusstsein an den Tag | |
legen müssen. Doch stattdessen betrachten sie die Macht als Beutestück, die | |
es aufzuteilen gilt. | |
Bis heute ist die neue Regierung nicht komplett. Aber sie unterhält 40 | |
Ministerien. Allein der irakische Ministerpräsident, Nuri al-Maliki, hatte | |
drei Ministerien unmittelbar in seiner Hand: Innenministerium, Nationales | |
Sicherheitsministerium und bis vor kurzem auch das | |
Verteidigungsministerium. Es ist schwer, für ein mit Überzahl belegtes | |
Regierungskabinett, seine Aufgaben zu erfüllen. Es ist auch interessant zu | |
wissen, dass der Irak wohl das einzige „demokratische“ Land der Welt ist, | |
das über keine Opposition verfügt. Gewinner und Verlierer der letzten | |
Wahlen sitzen zusammen in der Regierung. Kein Gesetz wird im Parlament | |
verabschiedet, ohne gleichzeitig ein anderes Gesetz als Gegengewicht zu | |
verabschieden. Das Prinzip lautet: Ich stimme für deinen Gesetzentwurf, du | |
wiederum tust dasselbe bei meinem Gesetzentwurf. | |
Das gleiche Prinzip gilt bei der Korruption. Ich helfe dir beim Rauben. Du | |
hilfst mir. Rechenschaft, Kontrolle? Null. Alle schweigen. Das heißt auch: | |
die Verteilung der Ministerien läuft nach diesem Muster. Deshalb wollte | |
auch niemand ein „Bagatell“-Ministerium mit niedrigem Budget wie das | |
Kulturministerium. | |
Zumindest war das so, bis Bagdad von der Unesco zur Kulturhauptstadt 2013 | |
erklärt wurde. Deshalb ist, im Gegensatz zur Kultur, das Stromministerium | |
immer das begehrteste Ministerium. Circa 27 Milliarden US-Dollar sollen für | |
den Aufbau des Stromnetzes ausgegeben worden sein. Doch Stromausfälle sind | |
immer noch Alltag im Irak. Das Ausmaß an Korruption gerade im | |
Stromministerium ist schwer vorstellbar. Es existieren Verträge mit | |
Phantomfirmen. Provisionszahlungen laufen nach einem Muster, die vor allem | |
die Mafia im Ministerium zufrieden stellt. | |
Ist es nicht traurig, dass ein reiches Land wie der Irak, das über eine der | |
größten Ölreserven der Welt verfügt, doch als einer der gescheiterten | |
Staaten dieser Welt gelten muss? | |
## Keine Strategie | |
Gescheitert bei der Verwaltung seiner Ressourcen, bis jetzt hat das | |
Parlament kein Gesetz zur gerechten Aufteilung verabschiedet. Gescheitert | |
bei der Festlegung einer Strategie, die Iraks Rolle in der Region | |
definiert, einschließlich seiner Außenpolitik. Gescheitert beim Aufbau der | |
Infrastruktur, bei der nationalen Integration, bei der Schiedsrichterrolle | |
des Staates und an den sozialen Auseinandersetzungen. | |
Gescheitert bei der Etablierung eines Staatsmonopols der bewaffneten | |
Gewalt. Seit Ende des Bürgerkrieges vor sieben Jahren wird bis heute das | |
System von „Law and Order“, welches die Verfassung eigentlich garantiert, | |
verletzt, sowohl von der Regierung als auch von illegalen bewaffneten | |
Gruppen, die mit Hilfe politischer Kräfte immer wieder hervortreten. | |
Letztlich ist der Irak bei der Trennung der drei Staatsgewalten | |
gescheitert, die die Basis einer Demokratie ausmachen. Die Exekutive | |
verfügt über die Justiz und machte sie zu ihrer Sklavin, während das | |
gesetzgebende Parlament sich als Forum für Verleumdungen und Beschimpfungen | |
der gegenerischen Lager etablierte. | |
Ein absoluter, gescheiterter Staat. Anders kann man den Staat, von dem die | |
Iraker geträumt haben, nicht bezeichnen. Daher war zu erwarten, dass der | |
Irak auf der Liste, die das US-Magazin Foreign Policy und The Fund For | |
Peace für 2012 mit den Namen der ersten 10 gescheiterten Staaten der Welt | |
herausgaben, auf Platz neun gelandet ist. | |
Die Länder vor Irak heißen: Somalia, Kongo, Sudan, Tschad, Simbabwe, | |
Afghanistan, Haiti, Jemen. | |
Sollten die Wahlen, die in diesem Jahr oder spätestens Anfang 2014 | |
stattfinden sollen, keine neue Regierung und vor allem keine neuen stabilen | |
politischen Verhältnisse schaffen, die die Bekämpfung der Korruption zum | |
obersten Ziel macht, ist allerdings zu erwarten, dass der Irak bald auf den | |
fünften Platz dieser Liste zurückkehrt, auf dem er 2007 schon gewesen ist. | |
Oder es käme sogar noch besser, und Irak bekäme den ersten Platz. Vor | |
Somalia. | |
19 Mar 2013 | |
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