# taz.de -- Die Wahrheit: Musik, zwo, drei! | |
> Wenn zwischen dem Hervorbringer der Töne und dem Hörer Einvernehmen | |
> besteht, ist es in Ordnung, anderenfalls Nötigung. | |
Bild: Am falschen Ort zur falschen Zeit kann aus dem hochwertigen Musizieren ei… | |
Die Ruhrgebietsstadt Duisburg macht Schlagzeilen, weil sich im Stadtteil | |
Rheinhausen in größerer Zahl Sinti und Roma niedergelassen haben. Viele | |
Anwohner, so ist zu lesen, beklagen sich: Kriminalität, Müll, Prostitution, | |
und vor allem: Lärm. Die Klagen sind verständlich. Niemand möchte solche | |
Dinge in der Nachbarschaft haben. | |
Ich kann dazu nicht viel sagen. Die einzigen Sinti und Roma, die ich kenne, | |
sind Musiker. Über Kriminalität, Müll und Prostitution weiß ich nichts. | |
Wenn sie allerdings mit sechzig Mann auf der Bühne stehen, dann wird es | |
richtig laut: Geige, Akkordeon, Blasgerät, Trommel und so weiter. So etwas | |
kann ich mir ganz gut anhören, jedenfalls im Konzertsaal, und so lange ich | |
nicht aufgefordert werde, doch mal diese typisch deutsche Steifheit zu | |
vergessen und ausgelassen mitzujuchzen und zu tanzen, wird mir kein | |
finsterer Gedanke kommen. Doch wehe, wenn ich gezwungen werden soll, | |
unsteif zu sein! | |
Das geht mir auch bei Green-Day-Auftritten auf die Nerven, dass ich da | |
immerzu aufspringen und die Arme schwenken und „Heho, heho“ brüllen soll. | |
Zum Merken: Ich drücke Lebensfreude nicht durch Herumhüpfen aus. Sondern | |
eventuell durch das Wippen mit der Fußspitze, und wenn ich zu Green Day | |
gehe, dann will ich ein Konzert erleben und keinen Kindergeburtstag. Das | |
gilt auch für Sinti-Orchester und Roma-Chöre! | |
So manierlich ein Konzert mit Gipsy-Musik sein kann: In der Nachbarschaft | |
möchte ich ein solches Orchester nicht haben. Die Vorstellung, dass die | |
Musiker zu mir unpassender Zeit üben oder sich gar im Hof zur Probe | |
versammeln, missfällt mir. Unwillkommene Musik ist Lärm, egal, wie gekonnt | |
sie daherkommt. Wenn zwischen dem Hervorbringer der Töne und dem Hörer | |
Einvernehmen besteht, ist es in Ordnung, anderenfalls Nötigung. | |
Ich wohnte mal in einem Haus, in dem auch ein Gewandhausmusiker lebte, der, | |
wie es sich bei der Zugehörigkeit zu einem Spitzenorchester ziemt, eine | |
Stradivari besaß. Der Vormieter erwähnte den Künstler nicht; ich erfuhr es | |
erst, als der Mietvertrag schon unterschrieben war. Mit gespitzten Ohren | |
wartete ich auf Störgeräusche, denn der Fiedler würde ja wohl irgendwann | |
üben müssen. Wobei Fiedler jetzt vielleicht nicht das richtige Wort ist. | |
Doch da war nichts. | |
Vielleicht, so dachte ich schließlich, wird man beim Gewandhausorchester | |
nur genommen, wenn man schon alles kann und daher nicht mehr üben muss. | |
Eine nachvollziehbare und lobenswerte Praxis, wobei man aber sicherlich | |
lieber jemandem beim Üben zuhört, der eigentlich nicht üben müsste, als | |
jemandem, der es bitter nötig hat. | |
Es dauerte nicht lange, und ich begegnete dem Musiker im Treppenhaus. Ein | |
uraltes dürres Männlein, das von seiner Frau gestützt werden musste. Die | |
Stradivari hatte er gewiss noch beim Meister persönlich in Auftrag gegeben. | |
Kein Wunder, dass von ihm kein Geigenspiel mehr zu hören war. Denn ab einem | |
bestimmten Alter muss man abwägen, ob man mit seinen verbliebenen Kräften | |
musiziert oder sich lieber wenigstens einmal am Tag selbst die Nase putzt. | |
Bald erfuhr ich, dass ich wohl auch von einem aktiven Gewandhausgeiger | |
nichts hätte befürchten müssen. Denn Kulturorchestermusiker gehen dank | |
einer starken Interessenvertretung in beamtenähnlicher Weise ihrer Arbeit | |
nach. Man gibt kein Konzert, sondern hat Orchesterdienst. Die Proben- und | |
Auftrittszeiten unterliegen einem strengen Reglement. Ist die Dienstzeit | |
um, wird auf die Sekunde genau Schluss gemacht mit Blasen und Streichen, | |
dann geht’s ab in die Kantine. Da kann der weltberühmte Herr Dirigent mal | |
sehen, wie es klingt, wenn er sein Stöckchen schwingt und kein Tuttischwein | |
mehr da ist, das die dazu passenden Töne emittiert. | |
In einer Tarifauseinandersetzung forderten die Bläser oder Streicher vor | |
einigen Jahren mal mehr Geld als die Schlagwerker und Kontrabassisten, weil | |
sie ja mehr Noten spielen müssten. Darauf meinte dann ein Schlagwerker, | |
wenn das so sei, dann werde er in Zukunft alle seine Noten gleich am Anfang | |
des Konzerts spielen, und wenn er damit fertig sei, unverzüglich nach Hause | |
gehen. Man kann dazu stehen, wie man will. Aber als Nachbarn sind Musiker | |
mit solcher Arbeitsauffassung nicht zu übertreffen. | |
19 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Robert Niemann | |
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