| # taz.de -- Glaube und Demenz: Textlastigkeit kommt nicht gut an | |
| > Demenzkranke haben kaum Zugang zu Spiritualität. Mittlerweile entwickeln | |
| > beide Kirchen Konzepte um die Betroffenen aus ihrer Isolation zu | |
| > befreien. | |
| Bild: Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leiden 1,4 Millionen Me… | |
| HAMBURG taz | Völlig verzweifelt, so erinnert sich Ulrich Kratzsch, sei die | |
| alte Dame eines Tages in die Kirche gekommen. Ihr Mann ist dement. Nach und | |
| nach verliert er die Fähigkeit, sich an Vergangenes zu erinnern, den Alltag | |
| selbst zu organisieren. Die Frau war überfordert. Wo gab es Hilfe? Kratzsch | |
| fühlte sich sofort angesprochen. Seit zweieinhalb Jahren besucht der | |
| 57-jährige Berliner das Ehepaar seitdem sonntags regelmäßig in seiner | |
| Wohnung. „Ich singe Lieder, die an diesem Tag gerade im Gottesdienst dran | |
| waren“, sagt er. „Und ich erzähle von der Predigt – aber nur kurz.“ | |
| Manchmal beten sie. Auch der Pfarrer hat schon vorbeigeschaut und mit dem | |
| Paar das heilige Abendmahl gefeiert. 15, 20 Minuten dauert so ein | |
| Sonntagsbesuch. Das kurze Ritual reicht aus, um den Mann in seiner | |
| Einsamkeit zu erreichen und der Frau Kraft zu spenden für das schwierige | |
| Miteinander. „Auch ich bin durch diese Begegnungen gewachsen“, sagt Ulrich | |
| Kratzsch. | |
| Er hat an der Freien Uni Berlin Publizistik und Politikwissenschaft | |
| studiert, leitet mit einer anderen Person [1][einen Pflegedienst mit dem | |
| Fachschwerpunkt Gerontopsychiatrie]. Auch ehrenamtlich kümmert sich Ulrich | |
| Kratzsch um Demenzkranke. Das kam so: Ende der neunziger Jahre stellten | |
| Kratzsch und der evangelische Pfarrer Norbert Schilling fest, dass viele | |
| Demenzkranke kaum noch Zugang zu Spiritualität hatten. | |
| Wenn sie noch zu Hause wohnten, kam ein paarmal am Tag der Pflegedienst, | |
| sorgte für das Lebensnotwendige. Das war’s. Kontakte zu ihrer Gemeinde | |
| hatten die Menschen kaum noch. Aber wenn sie dann doch an einem | |
| Gottesdienst von Norbert Schilling teilnahmen, erinnerten sie sich auch | |
| nach Wochen an dieses Erlebnis, erzählten lebhaft davon. Nach Angaben der | |
| [2][Deutschen Alzheimer Gesellschaft] leiden 1,4 Millionen Menschen an | |
| Demenz. | |
| ## Überalterte Gesellschaft | |
| Die Zahl wird in der überalterten Gesellschaft der Zukunft noch steigen. | |
| Steigen wird auch die Zahl der kinderlosen Alten, die auf sich allein | |
| gestellt vor sich hin leben. Beide christlichen Kirchen entwickeln deshalb | |
| Konzepte für geistliche Veranstaltungen und Netzwerke, die diese Zielgruppe | |
| ansprechen, sie ins Gemeindeleben einbeziehen. „Die Anfragen nehmen zu“, | |
| sagt der Katholik Elmar Trapp, Regionalbeauftragter für Altenheimseelsorge | |
| im Stadtdekanat Köln und Referent für die Qualifizierung „Begleiter in der | |
| Seelsorge“. | |
| Mit Priestern in der Ausbildung, mit Angestellten von Seniorenheimen und | |
| vielen anderen hat er sich in den vergangenen Jahren über die Arbeit mit | |
| Dementen ausgetauscht. „Durch die dementielle Erkrankung ändert sich der | |
| familiäre Kontext“, weiß Trapp: Angehörige brauchen Rückhalt, suchen Kraft | |
| im Gebet, möchten sich mit Menschen in ähnlicher Situation austauschen. | |
| Vor allem in größeren Städten findet man seit ein paar Jahren solche | |
| Netzwerke: in Berlin, Köln, Lübeck, auch in Baden-Württemberg. Die | |
| evangelische Kirche scheint etwas aktiver zu sein als die katholische. | |
| Demenzkranke Menschen in Kleinstädten und auf dem Land werden deutlich | |
| schlechter spirituell versorgt. Das gilt nach wie vor auch für Alte, die | |
| noch zu Hause wohnen und nicht in einem Seniorenheim. In den meisten dieser | |
| Einrichtungen sind Gottesdienste gang und gäbe, regelmäßig schaut ein | |
| Pfarrer oder eine Pfarrerin vorbei. | |
| Schon seit den neunziger Jahren bemühen sich haupt- und ehrenamtliche | |
| Mitarbeiter der Kirchen, ihre Veranstaltungen in den Heimen so zu | |
| gestalten, dass sie auch Demente erreichen. Das ist mitunter schwierig, | |
| verlangt Feingefühl. „Es kommt vor, dass jemand mittendrin aufsteht und | |
| rausrennt oder dazwischenruft“, sagt die Pfarrerin Marlis Schultke, die | |
| seit vielen Jahren als Seelsorgerin in Berliner Seniorenheimen tätig ist. | |
| ## Liturgische Feiern | |
| Elmar Trapp aus Köln will den Senioren „auf Augenhöhe begegnen“ – und z… | |
| im wahrsten Sinn des Wortes. Zu liturgischen Feiern im Heim wird jeder | |
| Anwesende sitzend mit Namen begrüßt. „Spontane Äußerungen“ während der | |
| Feier seien „einzubeziehen und wertzuschätzen“, heißt es in einem Papier, | |
| das der Pastoralreferent verfasst hat. Sinnliche Erlebnisse kommen nach | |
| seinen Erfahrungen besonders gut an: Bei einem Erntedankfest eine frische | |
| Möhre in die Hand nehmen, in einen Apfel beißen, an Blumen riechen. | |
| Elmar Trapps Konzept sieht für die Seniorenheime auch Begegnungen an den | |
| Betten der Alten vor. „Ein Gute-Nacht-Ritual einführen“ lautet eine seiner | |
| Ideen, „herausfinden, welches ihr Lieblingsgebet ist“, eine weitere. Beides | |
| könne unruhige Menschen unterstützen, ihnen das Gefühl von Heimat und | |
| Geborgenheit vermitteln. | |
| Demente erinnern sich eher an ein Lied oder ein Gebet aus ihrer Kindheit | |
| als daran, wen sie gestern getroffen haben. Diesen Umstand macht sich die | |
| Pfarrerin Marlis Schultke mit ihren Ideen zunutze. Vor neun Jahren trat der | |
| Sozialpsychiatrische Dienst an sie heran: Ob sie sich vorstellen könne, | |
| Gottesdienste für Demente zu gestalten? Schultke sagte Ja und dachte lange | |
| über ihre Vorgehensweise nach. | |
| Sie bietet nun jeweils im Frühling und im Herbst in der Trinitatiskirche in | |
| Charlottenburg einen solchen Gottesdienst an. Dazu sind Mitglieder der | |
| Gemeinde und Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen und Freunde eingeladen. | |
| Ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer wären diese Gottesdienste nicht | |
| möglich. | |
| Sie sammeln unter anderem Spenden für die An- und Abfahrt der Menschen mit | |
| Behindertentransportern. Sie geleiten sie in der Kirche zu ihren Plätzen, | |
| bringen ihnen während des Abendmahls Gläschen mit Traubensaft, servieren | |
| nach dem Gottesdienst an langen Tafeln auch mal Kaffee und Kuchen. | |
| ## Kein Monolog sondern ein Zwiegespräch | |
| Eine Erkenntnis von Marlis Schultke lautet: Textlastigkeit kommt nicht gut | |
| an. Ihre Predigt ist kurz, kein Monolog, eher ein Zwiegespräch mit einer | |
| Person aus der Gemeinde. Eine weitere Erkenntnis lautet: Anker und Rituale | |
| helfen den Demenzkranken, sich zu orientieren. Daher ist die Kirche mit | |
| Bildern zum Thema des Gottesdienstes geschmückt. Daher taucht das Lied | |
| „Weißt du, wie viel Sternlein stehen?“ in jedem Gottesdienst auf. Schultke | |
| stimmt ohnehin eher einfache, bekannte Lieder an als schwere geistliche | |
| Musik. | |
| Ulrich Kratzsch und mehr als 20 andere Ehrenamtliche engagieren sich in | |
| einem „Geistlichen Zentrum für Menschen mit Demenz und deren Angehörige“. | |
| Der Arbeitskreis gehört zu einer evangelischen Gemeinde in Schöneberg. Er | |
| veranstaltet Tanzabende und Alzheimer-Salons. Und er organisiert den | |
| fachlichen Austausch der Interessierten – über religiöse Grenzen hinweg. | |
| Zur Jüdischen Gemeinde bestehen Kontakte. Unlängst hat man sich in einem | |
| buddhistischen Kloster zu einem Workshop über Krankheit und Tod getroffen. | |
| „Und im Mai steht ein Termin in der Moschee am Columbiadamm an“, sagt | |
| Ulrich Kratzsch. | |
| Literatur: [3][Gerhard Hille, Antje Koehler: „Seelsorge und Predigt für | |
| Menschen mit Demenz“]. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2013. | |
| 1 May 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.meyer-und-kratzsch.de/de/impressum/ | |
| [2] http://www.deutsche-alzheimer.de/ | |
| [3] http://www.v-r.de/de/title-1-1/seelsorge_und_predigt_fuer_menschen_mit_deme… | |
| ## AUTOREN | |
| Josefine Janert | |
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