# taz.de -- Experte zur Zukunft der Pflege: „Da passiert leider nichts mehr“ | |
> Demenzkranke bekommen nicht die Hilfe, die sie brauchen. Denn es gibt | |
> keine entsprechende Definition von Pflegebedürftigkeit. Experte Kiefer | |
> sieht die Politik am Zug. | |
Bild: Ein ungewöhnlicher Clown: Ulrich Fey hat sich auf die Arbeit mit Demenzk… | |
taz: Herr Kiefer, noch in diesem Juni will der Pflegebeirat der | |
Bundesregierung sein Konzept für eine grundlegende Reform der | |
Pflegeversicherung überreichen. Welche neuen, besseren und zusätzlichen | |
Leistungen dürfen denn Demenzkranke und ihre Angehörigen zum Ende der | |
Legislaturperiode erwarten? | |
Gernot Kiefer: In dieser Legislaturperiode? Keine. Neue Leistungen würden | |
ja bedeuten, dass die Politik den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auch | |
wirklich einführen würde. Im September wird ein neuer Bundestag gewählt! Da | |
passiert leider nichts mehr. | |
Was soll dann dieser Bericht? Die Menschen, die seit Jahren auf die | |
Anerkennung von Demenz als Leistungsanspruch hoffen, erneut vertrösten? | |
Die Funktion des Berichts ist, weitere inhaltliche Vorbereitungen zu | |
treffen, damit die nächste Regierung zusätzliche Hinweise, Fakten und | |
Empfehlungen hat, um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff dann aber | |
wirklich einzuführen. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff muss in der | |
nächsten Legislaturperiode endlich kommen! | |
Schon im November 2006 wurde unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla | |
Schmidt (SPD) ein Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs | |
einberufen. 2009 gab es konkrete Ergebnis- und Umsetzungsberichte. Freilich | |
ohne Konsequenzen. Daniel Bahr (FDP) hat dann im März 2012 einen neuen | |
Beirat einberufen. Und jetzt, fast sieben Jahre später, sagen Sie: „Sorry, | |
die nächste Regierung soll es richten“? | |
Wir leben mit der gesellschaftspolitisch inakzeptablen Situation, dass wir | |
aufgrund der Art, wie Pflegebedürftigkeit definiert ist, Demenzkranke | |
benachteiligen. Die Fachwelt ist sich einig darin, dass wir | |
Pflegebedürftigkeit nicht länger danach definieren dürfen, welche | |
Unterstützung Menschen beim Verrichten von Dingen benötigen, also etwa beim | |
Waschen, beim Anziehen oder in der Hauswirtschaft. Sondern es geht um das | |
Maß der Selbstständigkeit, egal ob aufgrund psychischer, kognitiver oder | |
körperlicher Einschränkung. Darauf bauen sich künftig die | |
Leistungsansprüche auf. | |
So weit waren wir schon vor vier Jahren! | |
Stimmt. In dem neuen Expertenbeirat ging es nun darum, weitere | |
Umsetzungsfragen zu erörtern, und insbesondere darum, welche Leistungen | |
künftig den neuen fünf Pflegegraden zugeordnet werden sollen, die die | |
bisherigen drei Pflegestufen ablösen. | |
Und? | |
Der Beirat hat das Problem nicht abschließend gelöst. | |
Sie legen den Bericht vor, beantworten aber nicht die entscheidenden | |
Fragen? | |
Der Beirat sagt sehr wohl, welche Kriterien die Politik anwenden soll. Dazu | |
zählt, die Anreize so zu setzen, dass das häusliche Umfeld gestärkt wird | |
und nicht die stationäre Betreuung. Und dass die Tendenz nicht verstärkt | |
werden darf, dass Pflegebedürftigkeit in die Abhängigkeit von Sozialhilfe | |
führt. Aber wir empfehlen eben nicht eine konkrete Leistungshöhe in Euro | |
und Cent für den jeweiligen Pflegegrad. | |
Wie bitte? | |
Es ist eine politische Wertentscheidung, wie viel Geld insgesamt für die | |
Unterstützung der Pflegebedürftigen aus der Pflegeversicherung zur | |
Verfügung stehen soll. Erst wenn man das weiß, kann man eine Verteilung | |
über die verschiedenen Pflegegrade machen. Die Wissenschaft kann | |
bestenfalls die Empirie liefern, wie groß der tatsächliche | |
Unterstützungsbedarf ist. Aber sie bietet keinen Maßstab, mit wie viel Euro | |
wir bewerten wollen, dass eine Person beispielsweise den ganzen Tag und die | |
ganze Nacht in unterschiedlicher Intensität betreut werden muss. | |
Warum ist es dem Beirat nicht gelungen, die Politik auf eine Summe | |
festzunageln? | |
Wir haben als Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen vor | |
der Einberufung des Beirats gegenüber der Politik stets argumentiert, es | |
bedürfe einer politischen Grundsatzentscheidung, dass erstens der neue | |
Pflegebedürftigkeitsbegriff kommt und dass zweitens der finanzielle | |
Gesamtrahmen klar sein muss. Diese Empfehlung hat die Politik explizit | |
nicht aufgegriffen. | |
Herr Kiefer, haben Sie sich missbrauchen lassen für eine | |
Alibiveranstaltung, deren einziger Zweck ist, das Versagen dieser Regierung | |
in der Pflegepolitik auf andere abzuwälzen? | |
Von einer Alibiveranstaltung würde ich nicht sprechen. Aber, klar: Ohne | |
eine Entscheidung über die politischen Eckpunkte ist der Durchbruch kaum | |
machbar. | |
Stattdessen wollen Sie nun ein weiteres empirisches Gutachten in Auftrag | |
geben – auf Kosten der gesetzlich Versicherten. Können Sie verstehen, dass | |
sich die Menschen verschaukelt fühlen? | |
Wir wollen auch ohne die politische Grundsatzentscheidung weiter daran | |
arbeiten, dass die dringend notwendige Reform so gut wie möglich wird. Da | |
hilft zusätzliches empirisches Datenmaterial über die reale Lebenssituation | |
und die Unterstützungsbedarfe der Pflegebedürftigen. Die Ergebnisse werden | |
der Politik in der nächsten Legislaturperiode helfen, im Interesse der | |
Pflegebedürftigen zu entscheiden. | |
Haben Herr Rösler und Herr Bahr, die beiden FDP-Gesundheitsminister der | |
schwarz-gelben Regierung, sich jemals ansatzweise für die Pflege | |
interessiert? | |
Mein Eindruck ist, dass es in der Anfangsphase ein klares Engagement gab, | |
die vielfältigen Problemstellungen zu systematisieren. Herr Bahr hat sich | |
dann dafür entschieden, mehr Expertise durch einen Expertenbeirat zu | |
erwerben. Damit hat er logisch in Kauf genommen, dass die Grundsatzklärung | |
dieses Themas in dieser Legislaturperiode nicht mehr stattfindet. Und die | |
Erfahrung zeigt: Große Sozialreformen gelingen am besten bei | |
parteiübergreifender Einigkeit. | |
Es gibt unter den meisten Pflegebedürftigen und Angehörigen die | |
Bereitschaft, mehr Geld auszugeben. Die Menschen wissen, dass Pflege und | |
Betreuung kosten. | |
Es gibt einen interessanten und eklatanten Unterschied zwischen der | |
Bereitschaft der Menschen, zu akzeptieren, dass für die Versorgung | |
pflegebedürftiger Menschen mehr Ressourcen aufgewendet werden müssen, und | |
der Politik, die sich scheut, mehr Geld aufzuwenden. Sobald es konkret | |
wird, setzen die typischen verteilungspolitischen Konflikte ein. | |
Den Kassen geht es finanziell besser denn je. Wie viel Geld zusätzlich darf | |
ein gerechtes System kosten? | |
Ich will und werde mich hier nicht auf eine bestimmte Summe festlegen. | |
Einer der beiden Vorsitzenden hat kürzlich den Betrag von 4 Milliarden in | |
den Mund genommen, andere sprechen von 0 Euro. Wichtig ist, das System so | |
zu gestalten, dass kognitive und somatische Ursachen gleich behandelt | |
werden und dass eine gewisse Homogenität in den einzelnen Leistungsstufen | |
besteht. | |
Ist ein kostenneutrales Szenario realistisch? | |
Sie können ein kostenneutrales Szenario selbstverständlich rechnen. Aber da | |
die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, ist es unwahrscheinlich, dass dies | |
kostenneutral gelingen kann. | |
3 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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