# taz.de -- Kommentar Hartz-Aufstocker: Die Lügen der Ministerin | |
> Von der Leyen will die Mitte der Gesellschaft beruhigen: Man kümmere sich | |
> um die Nöte der Niedrigverdiener. Doch dem ist nicht so. | |
Ursula von der Leyen präsentiert sich gerne als soziales Gewissen der | |
schwarz-gelben Regierung. Neulich, auf dem Evangelischen Kirchentag, | |
erklärte die Arbeits- und Sozialministerin, das Einkommen einer | |
Vollzeitstelle müsse reichen, „dass man davon leben kann.“ | |
Stundenlöhne „von drei, fünf oder sechs Euro“ dürfe es nicht geben, tön… | |
von der Leyen. Die CDU sorgt sich auch um die Existenznöte kleiner Leute, | |
lautete die Botschaft, und sie achtet darauf, dass, wer fleißig ist, Armut | |
nicht zu fürchten braucht. So weit die Inszenierung. | |
Die CDU als kuschelige Volkspartei für alle: Von der Leyen poliert dieses | |
Bild nicht schlecht. Doch ab und zu schimmert die unschöne Realität durch | |
die Fassade. Die [1][Süddeutsche Zeitung] zitierte heute aus neuen | |
Statistiken der Bundesagentur für Arbeit Fakten, die von der Leyens | |
Inszenierung widerlegen. | |
Es geht um Menschen mit Vollzeit- oder Teilzeitjobs, die so wenig | |
verdienen, dass sie Zuschüsse vom Amt brauchen, um ihre Existenz zu | |
sichern. Eine Gruppe innerhalb dieser so genannten Hartz IV-Aufstocker ist | |
laut SZ in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Mussten im Jahr 2012 | |
etwa 323.000 Haushalte mit einem sozialversicherungspflichtigen | |
Bruttoeinkommen von mehr als 800 Euro aufstocken, waren es 2009 noch rund | |
20.000 weniger. | |
## Ein Deutungskampf | |
Um den Zeitungsbericht entwickelte sich im Laufe des Tages ein | |
Deutungskampf. Die Arbeitsagentur verwies darauf, dass die Sache anders | |
aussieht, wenn man nicht die Haushalte, sondern die Einzelpersonen | |
anschaut. In der Tat ist die Gesamtzahl der Aufstocker leicht | |
zurückgegangen. 2010 mussten 1,27 Millionen arbeitende Menschen zum Amt, im | |
Dezember 2012 nur noch 1,19 Millionen. | |
Doch selbst diese - positive - Deutung offenbart einmal mehr einen Skandal. | |
In Deutschland existiert seit Jahren eine Klasse der "Working Poor", ohne | |
dass dies die unterschiedlichen Regierungen groß gekümmert hätte. | |
Nun muss man in diesen Gruppen durchaus differenzieren, Aufstocken bei | |
einem Teilzeitjob ist etwas anders als Armut trotz Vollzeit. Wenn eine | |
alleinerziehende Krankenschwester nur zwei Tage pro Woche arbeitet, weil | |
sie sich um ihre Kinder kümmern muss, wird sie auch mit angemessenen | |
Stundenlöhnen ihre Familie nicht ernähren können. Dann sind Hilfen vom Amt | |
in Ordnung. | |
Entscheidend aber ist die andere, die perfide Seite des Phänomens. Manche | |
Betriebe zahlen ihren Angestellten absichtlich Niedrigstlöhne, um die | |
eigenen Gewinne zu maximieren. Und sie legen die Kosten auf die | |
Allgemeinheit um, wohlwissend, dass der Staat das Schlimmste verhindert. | |
## 4,51 Euro pro Stunde. Brutto | |
Die Stundenlöhne, die von der Leyen lautstark für unmoralisch erklärt, | |
existieren in vielen Branchen. Eine ausgebildete Friseurin in | |
Mecklenburg-Vorpommern bekommt 4,51 Euro die Stunde. Nach Tarif und brutto, | |
versteht sich. Ein Gebäudereiniger in Hessen bekommt 5,80 Euro in der | |
Stunde. Die Liste ließe sich fortführen. | |
Und die CDU? Flüchtet sich in Schaufensterpolitik, anstatt endlich die | |
deutsche Realität zu akzeptieren. Von der Leyen und Co. blockieren weiter | |
einen gesetzlichen Mindestlohn, der Lohndrücker stoppen würde. Stattdessen | |
bieten sie einen unwirksamen Schein-Mindestlohn an, der Ausreißer nach | |
unten akzeptiert. | |
Indem die CDU daran festhält, dass die Tarifpartner für einzelne Branchen | |
Lohnuntergrenzen aushandeln sollen, ignoriert sie, dass die Gewerkschaften | |
vielerorts zu schwach sind, um Interessen der Beschäftigten noch wirksam | |
vertreten zu können. | |
Ursula von der Leyen, die dieses Konzept maßgeblich verantwortet, lässt | |
also Stundenlöhne von drei, fünf oder sechs Euro ausdrücklich zu. Und sie | |
lügt, wenn sie das Gegenteil behauptet. | |
Ihre CDU suggeriert Verständnis und Wertschätzung. Sie gibt vor, sich um | |
die Nöte von Niedrigverdienern zu kümmern, um die gesellschaftliche Mitte | |
zu beruhigen. Aber in Wirklichkeit lässt sie diese Menschen allein. | |
Die Bundesagentur für Arbeit hat im Laufe des Tages ihre Interpretation der | |
Zahlen veröffentlicht. Wir haben unseren Kommentar entsprechend geändert. | |
Die Redaktion. | |
8 May 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/debatte-ueber-mindestlohn-die-haessli… | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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