# taz.de -- Debatte Arbeitsmarkt: Die neue Mangelwirtschaft | |
> Die Arbeitslosenstatistik ist geschönt. Um Langzeitarbeitslose wieder zu | |
> beschäftigen, braucht es mehr als hehre Pläne. | |
Bild: Geschönte Statistik, wohlgeordnet. | |
Deutschland ist nach wie vor ein Land mit anhaltender | |
Massenarbeitslosigkeit – auch wenn die offiziellen Arbeitslosenzahlen in | |
den letzten drei Jahren gesunken sind. Zwar ist die Lage in vielen Ländern | |
Südeuropas aufgrund der Finanzkrise noch viel schlechter, das berechtigt | |
aber keineswegs dazu, die Lage hierzulande schönzureden. | |
Zu Recht wird daher wieder verstärkt über einen sozialen Arbeitsmarkt für | |
Langzeitarbeitslose diskutiert. Der [1][Hochschullehrer Stefan Sell hat in | |
diesem Zusammenhang ein Konzept vorgelegt], das auf große Resonanz beim | |
Paritätischen Wohlfahrtsverband, aber auch bei Teilen von SPD und Grünen | |
stößt. Bis zu 400.000 Langzeitarbeitslose sollen von Unternehmen auf dem | |
ersten Arbeitsmarkt beschäftigt werden. | |
Der Lohn der Betroffenen wird vom Steuerzahler gezahlt, zum großen Teil | |
finanziert durch eine Umwandlung der bisherigen Hartz-IV-Sätze des | |
Personenkreises in einen Lohnzuschuss („Aktiv-Passiv-Tausch“). Bisher | |
vorhandene Beschränkungen öffentlich geförderter Beschäftigung – die | |
Arbeitsverhältnisse sollen zusätzlich sein und im öffentlichen Interesse | |
liegen – sollen entfallen, da sie sich als wenig praxistauglich erwiesen | |
haben. | |
So ehrenwert die Intention des Konzepts sein mag – es geht am Grundproblem | |
vorbei. Zudem ist es blind für seine ausgesprochen negativen | |
gesamtwirtschaftlichen Folgewirkungen. | |
## Es liegt nicht am Einzelnen | |
Warum sind so viele Menschen jahrelang im Hartz-IV-System ohne Chance auf | |
einen regulären Job? Liegt es wirklich an mangelnder Qualifikation und | |
persönlichen Problemen der Betroffenen, wie häufig behauptet wird? | |
Die Antwort ist: Es liegt nicht an den einzelnen Personen, sondern an einem | |
massiven Mangel an Erwerbsarbeit. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen von | |
knapp 3 Millionen Betroffenen zeigen nämlich nur die halbe Wahrheit. Rund | |
1,3 Millionen Personen tauchen hier überhaupt nicht auf, weil sie sich in | |
Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit befinden oder sich aufgrund | |
anhaltender Erfolglosigkeit bei der Arbeitssuche nicht mehr arbeitslos | |
melden. | |
Genauso schwerwiegend, aber wenig diskutiert: Inzwischen ist jeder dritte | |
abhängig Beschäftigte in Teilzeit erwerbstätig, insgesamt sind das 12,6 | |
Millionen Personen. Nach belastbaren Umfragen würde gut die Hälfte von | |
ihnen ihre Arbeitszeit gerne ausweiten. Rechnet man alle diese Wünsche nach | |
mehr Arbeit zusammen, so fehlen in Deutschland rund 5,2 Millionen | |
Vollzeitarbeitsplätze. Ein Mangel mit Konzept. | |
Es ist aber schlicht unmöglich, auch nur annähernd jede und jeden zu | |
beschäftigen. Von dieser Tatsache wird versucht abzulenken, indem die | |
Verantwortung für die Arbeitslosigkeit individualisiert wird: Die | |
Betroffenen sind angeblich nicht qualifiziert, motiviert oder | |
leistungsfähig genug. Das ist schlicht Unsinn. Auch wenn die gesamte | |
Erwerbsbevölkerung in Deutschland 30 Jahre alt und topfit wäre sowie ein | |
Studium abgeschlossen hätte – für 5,2 Millionen gäbe es schlicht keine | |
Arbeit. | |
## Arm, aber überqualifiziert | |
Am Arbeitsmarkt findet folglich ein Verdrängungsprozess statt. Besser | |
Qualifizierte nehmen Jobs weit unterhalb ihrer Qualifikation an: Inzwischen | |
ist jeder fünfte Arbeitnehmer überqualifiziert. Die Unternehmen profitieren | |
von dieser Lage: Beschäftige und Arbeitslose machen sich gegenseitig | |
Konkurrenz, so dass viele gezwungen sind, zu Niedriglöhnen und prekären | |
Bedingungen zu arbeiten. | |
Immer mehr Beschäftigte müssen ergänzend Hartz IV beziehen, weil ihre Löhne | |
zum Leben nicht reichen. Umgekehrt gilt: In Vollbeschäftigungsperioden – in | |
Deutschland zuletzt von 1960 bis 1973 – findet praktisch jeder Arbeit zu | |
guten Bedingungen. | |
Die Unternehmen stellen bereitwillig Ältere, gering Qualifizierte und | |
gesundheitlich Beeinträchtigte ein, weil sie sonst niemanden bekommen | |
können. Dann zeigt sich deutlich: Vermittlungshemmnisse liegen in der Regel | |
nicht in den Personen, sondern im Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf | |
dem Arbeitsmarkt begründet. Zentrale Ursache der Langzeitarbeitslosigkeit | |
ist ein Versagen des Marktes und nicht der betroffenen Menschen. Traumhafte | |
Zeiten. | |
## Mehr als Substitute | |
Eine solche Vollbeschäftigungslage ist derzeit überhaupt nicht absehbar. | |
Öffentlich geförderte Beschäftigung ist daher notwendig – aber nicht nach | |
Sells Modell. Würde das umgesetzt, fände schlicht und einfach eine | |
Substitution von regulärer Beschäftigung durch öffentlich geförderte | |
Beschäftigung statt. Werden 200.000 Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt – | |
also bei privaten Betrieben sowie Unternehmern der Sozialwirtschaft, die | |
Aufträge für reguläre Betriebe ausführen – aus Steuermitteln bezahlt, hab… | |
entsprechend viele Langzeitarbeitslose Arbeit. | |
Dafür sind 200.000 andere Personen arbeitslos. Sie werden entlassen oder | |
gar nicht erst eingestellt, weil sie zu teuer sind – sie erhalten ja keine | |
Lohnzuschüsse. Im Endergebnis würde die Zahl der Arbeitslosen gleich | |
bleiben und die Zahl der Bezieher öffentlicher Transferleistungen sich | |
verdoppeln. Reguläre Jobs wären durch noch mehr Aufstocker ersetzt. | |
Ein beschäftigungspolitisch und volkswirtschaftlich katastrophales | |
Ergebnis. Stattdessen brauchen wir einen sozialen Arbeitsmarkt, durch den | |
mehr Arbeit geschaffen wird. Unzweifelhaft gibt es enormen | |
gesellschaftlichen Bedarf zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur, vor | |
allem in den Bereichen Erziehung, Bildung, Pflege, Gesundheit. Hier könnten | |
hunderttausende Arbeitslose sinnvoll bei Kommunen und Wohlfahrtsverbänden | |
zu regulären, tariflichen Bedingungen beschäftigt werden. | |
In diesem Zusammenhang ist auch die vorgeschlagene Umwandlung der | |
Transferleistungen in Lohneinkommen wegweisend. Nur: Diese Beschäftigung | |
muss im öffentlichen Interesse sein. Es geht um Tätigkeiten, für die die | |
öffentliche Hand vor Ort aktuell keine Mittel hat. Um eine Verdrängung von | |
Beschäftigung zu vermeiden, sollten in den Landkreisen Ausschüsse der | |
Sozialpartner einstimmig über die Einrichtung entsprechender Arbeitsplätze | |
entscheiden. Auf diesem Weg könnte Arbeitslosigkeit in Deutschland wirksam | |
vermindert werden. | |
8 Mar 2013 | |
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[1] /Debatte-Langzeitarbeitslosigkeit/!110133/ | |
## AUTOREN | |
Lars Niggemeyer | |
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