# taz.de -- Investitionsstau an Universitäten: Strecken, schieben, stauchen | |
> Die Länder versuchen die doppelten Abi-Jahrgänge auf Sparflamme | |
> auszubilden. In NRW drohen Engpässe vor allem beim studentischen Wohnen. | |
Bild: Schon 2001 wiesen Studierende in Protesten auf die Verknappung des Wohnun… | |
Auf Höhe der Zentralbibliothek heißt es: Füße heben. Kathrin Jewanski ist | |
für einen Moment nachlässig, stolpert über eine der hervorstehenden | |
Bodenplatten und taumelt. „Das ist normal“, sagt die Referentin für | |
Hochschulpolitik des AStA an der Ruhruniversität Bochum. „Ist schon gar | |
kein Thema mehr, wenn hier im Winter Platten zerbrechen und abgesperrt | |
werden müssen.“ | |
Diese Lockerheit müssen sich wohl auch die künftigen Studierenden der | |
Universität Bochum und anderer Hochschulen in Nordrhein-Westfalen aneignen. | |
Es ist nicht alles fertig und piekfein, wenn der doppelte Abiturjahrgang | |
2013 an die Hochschulen drängt. Bis zu 130.000 Studienanfänger werden im | |
Herbst erwartet – fast ein Drittel mehr als im vergangenen Wintersemester. | |
Das stellt die 70 Hochschulen vor große Herausforderungen. | |
„Wir freuen uns auf die Studierenden“, machen die Sprecher der Unis zum | |
Einstieg eines jeden Gesprächs klar. Das ist ihre Art, die Last zu | |
schultern. Die Universität Düsseldorf hat sich gegenüber dem Land | |
verpflichtet, zwischen 2011 und 2015 rund 5.300 Studierende zusätzlich zu | |
ihren durchschnittlichen Anfängerzahlen aufzunehmen, in Köln sollen es | |
8.000 Studierende sein. | |
An der Gemeinschaftsuni Duisburg-Essen können allein in den kommenden | |
beiden Jahren etwa 5.000 und in Bochum 4.500 zusätzliche Studierende an den | |
Start gehen. „Und mit dieser Verpflichtung werden wir umgehen, wir werden | |
unsere Zusagen halten.“ Will heißen: Wir sind gut vorbereitet, wir schaffen | |
das. | |
## Fieberhaftes Gebastel | |
In Wahrheit klemmt und kneift es an allen Ecken und Enden. Mit viel | |
Engagement versuchen die Unis den Doppeljahrgang aufzunehmen – mit viel zu | |
wenig Mitteln. Arbeitsgruppen basteln an den Hochschulen fieberhaft an | |
Konzepten, um dem Ansturm Herr zu werden. In Münster wird geprüft, ob und | |
wie Studierende künftig in ehemaligen britischen Kasernen untergebracht | |
werden könnten. In Köln und Paderborn werben Studierende und Unileitung in | |
gemeinsamen Kampagnen bei Privatleuten dafür, Wohnraum zu vermieten. Das | |
Mittel der Wahl heißt: strecken, schieben, stauchen. | |
Der Investitionsstau zieht sich durch alle Bereiche der Infrastruktur für | |
die Studierenden. Engpässe drohen vor allem in den Bereichen studentisches | |
Wohnen und Gastronomie. Das zeigt ein Monitoring des | |
Wissenschaftsministeriums. In den Mensen und Cafeterien werde man | |
bestehende Angebote und die Öffnungszeiten so weit ausbauen, wie es der | |
Finanzrahmen zulasse, kommentiert das Helga Fels, Referentin der | |
Arbeitsgemeinschaft der Studentenwerke in NRW. „Aber man kann nicht | |
grenzenlos anbauen.“ Gerade für den Neubau von Wohnheimen habe man | |
jahrelang keine Mittel bekommen. | |
Kürzlich forderte Wissenschaftsministerin Svenja Schulze, die lediglich 50 | |
Millionen Euro in Form von vergünstigten Darlehen zur Verfügung stellt, | |
mehr Kreativität bei der Wohnraumsuche. „Wenn ich das höre – ’Wir sind | |
kreativ!‘ “, kontert Fels. Mancherorts wurden kurzfristig Pensionen oder | |
Hotels umgebaut, zusätzliche Wohnungen bei Investoren beauftragt und dann | |
langfristig angemietet. In der Zeit von 2010 bis 2013 konnte die Zahl der | |
Wohnplätze so ohne zusätzliche Mittel aus der Grundfinanzierung des Landes | |
um 1.200 gesteigert werden. | |
## Nachhaltiger Aufwuchs | |
Rund 11 Prozent der Studierenden können aktuell in einem Wohnheim der | |
Studentenwerke oder privater Investoren wohnen. „Ich habe Bedenken, ob | |
Studierende tatsächlich längere Zeit in entfernt gelegenen Wohnheimen – wie | |
etwa den in Münster angedachten ehemaligen Kasernen – wohnen werden“, sagt | |
Fels. „Wir brauchen auch Mittel für Neubauten, alles andere ist kein | |
nachhaltiger Aufwuchs von Wohnraum.“ | |
Nachhaltiger Aufwuchs – davon träumt auch Michael Jost. Der Personalrat an | |
der Ruhruni Bochum resigniert vor der Art, wie das Land und die Hochschulen | |
die Herausforderung der doppelten Abiturjahrgänge angehen. „Das | |
wissenschaftliche Prekariat nimmt deutlich zu – und füllt die Lücken beim | |
Lehrbedarf auf“, sagt Jost. | |
An der Ruhruni Bochum sind von 2.710 Stellen im wissenschaftlichen | |
Mittelbau nur noch 380 unbefristet. Ähnlich schätzt die Gewerkschaft | |
Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Relation bei den 4.200 Personen für | |
Lehraufgaben, die in ganz NRW zwischen 2007 und 2011 neu eingestellt | |
wurden. Besonders beliebt ist die Anstellung von Jungforschern, die neben | |
ihrer Promotion Lehraufträge erfüllen. 700 dieser Mitarbeiter werden nicht | |
nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, sondern nach der | |
alleinigen Maßgabe der Arbeitgeber bezahlt. In anderen Branchen heißt das | |
Dumping. Teilweise arbeiten sie mit Verträgen mit einer Laufzeit von unter | |
einem Jahr. | |
Hinzu kommen laut Jost an die 600 Lehrbeauftragte, von denen viele mit | |
Lehrstundensätzen von 30 bis 40 Euro auskommen sollen. In den letzten | |
Jahren gehen vermehrt auch wissenschaftliche Mitarbeiter auf | |
Drittmittelstellen in die Lehre, um die großen Studierendenzahlen zu | |
bewältigen – obwohl sie eigentlich für die Forschung bezahlt werden. | |
## Kein zeitlich begrenztes Problem | |
„Es werden also keine Dauerstellen geschaffen, obwohl Daueraufgaben | |
anfallen“, kritisiert Jost. Stattdessen stellten es die Hochschulen und das | |
Land nach außen hin so dar, als seien die doppelten Abiturjahrgänge ein auf | |
vier Jahre begrenztes Problem. Dementsprechend sind momentan auch die | |
zusätzlichen Mittel für die Hochschulen ausgelegt, die 2 Milliarden Euro | |
aus dem Hochschulpakt und weitere 8 Milliarden Euro des Landes bis 2020 | |
beziehen sich auf die Prognosen, wie viele Bachelorstudierende an die | |
Universitäten kommen werden. „Und was passiert, wenn die dann auch noch | |
einen Master haben wollen?“, fragt Jost. „Am Ende wird es wohl wie immer | |
irgendwie gehen, auch mit der Seifenblasenpolitik der Hochschulen und des | |
Landes“, sagt er. „Aber nur, weil das Personal den Extraschritt macht und | |
den Mehraufwand in seiner prekären Lage klaglos stemmt.“ | |
Auch auf ihrem Campus müssen die Hochschulen kreativ sei. Florian Rittmeier | |
drückt es so aus: „Der Baumarkt ist ein Segen.“ Der AStA-Vorsitzende der | |
Uni Paderborn meint damit, dass die Universität einen Praktiker-Markt zum | |
Hörsaalgebäude umbaut. Auf dem Uni-Gelände herrscht seit einigen Jahren ein | |
regelrechter Bauboom. 14 Hochschulgebäude werden für knapp 108 Millionen | |
Euro um- oder neu gebaut. Ob das alles reicht und fertig wird? „Es wird auf | |
jeden Fall eng – nicht weil die Uni sich nicht bemühen würde, doch in den | |
letzten Jahrzehnten wurde halt nichts gemacht.“ | |
In diesem Satz steckt das ganze Dilemma der nordrhein-westfälischen | |
Hochschulen. Sie bauen aktuell an allen Ecken und Enden. Und mittendrin der | |
doppelte Abi-Jahrgang. Der muss durch enge Gänge unter freiliegenden | |
Kabelleitungen und über gesplitterte Fliesen. „Das ist nicht nur eine | |
Zumutung für Mitarbeiter der Uni, das ist auch nicht barrierefrei – genauso | |
wenig wie der restliche Campus“, sagt AStA-Referentin Kathrin Jewanski. | |
Auch in Bochum drehen momentan die Kräne ihre Runden, von 2007 bis 2020 | |
wird die komplette Uni für 1,3 Milliarden Euro kernsaniert. „Aber das kommt | |
viel zu spät“, sagt Jewanski. | |
Der Text ist Teil I unserer Serie: Wie studieren 2,5 Millionen junge Leute | |
2013? | |
19 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Karen Grass | |
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