# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Guantánamo, ein Erklärungsversuch | |
> Wie erklärt man Guantánamo einem, der 10 Jahre weg war? Über Folter, | |
> Schuld und fehlenden Protest redet man am besten bei einem Teller | |
> Bratkartoffeln. | |
Bild: „Ich verstehe das alles nicht“, platzte es aus ihm heraus, nachdem er… | |
In einem anderen Leben habe ich mit Hilmar von Hartenooge an der | |
Ludwig-Maximilians-Universität in München Ethnologie studiert. Wir | |
diskutierten nächtelang über Fruchtbarkeitskulte, Propheten und | |
Geisterseher; wir verstanden uns auch ansonsten gut. Insofern war ich zwar | |
überrascht, aber durchaus erfreut, als er vor einigen Tagen vor meiner | |
Wohnungstür stand, mager, mit einem abwesenden Blick in den Augen und einem | |
Rucksack in der linken Hand. Er setzte sich auf den Fußboden und bat um ein | |
Glas Milch. | |
Ich: Wann bist du zurückgekehrt?, fragte ich. | |
Er: Letzten Monat. | |
Wie lange warst du weg? | |
Zehn Jahre. | |
Eine lange Zeit, murmelte ich. | |
Verlegenheit bringt die größten Weisheiten hervor. Zwischen langen Sätzen | |
des Schweigens erzählte er bruchstückhaft von Initiationsriten im | |
Ituri-Regenwald, von der letzten Elefantenjagd, von den Heilkräutern, die | |
ihm das Leben gerettet hätten. Er schien abgelenkt, so als gelte seine | |
Aufmerksamkeit etwas anderem. Er würde schon damit herausrücken, dachte ich | |
mir, während ich die Kartoffeln zum Kochen aufsetzte. Nach zehn Jahren im | |
zentralafrikanischen Dschungel hat man bestimmt Lust auf Bratkartoffeln. | |
Ich verstehe das alles nicht, platzte es aus ihm heraus, nachdem er drei | |
Portionen verdrückt hatte. | |
Was verstehst du nicht, Hilmar? | |
Was in meiner Abwesenheit so alles passiert ist. | |
Was meinst du? | |
Dieses Guantánamo zum Beispiel. | |
O weh, dachte ich mir. Ich empfand wenig Lust, die aktuellen Absurditäten | |
eines demokratischen, rechtsstaatlichen Systems einem bärtigen Ethnologen, | |
der gerade von einer langen Feldforschung zurückgekehrt war, zu erklären. | |
Lieber hätte ich mehr über den Gesang der Waldbewohner erfahren. | |
Was verwirrt dich denn, Hilmar? | |
Die Häftlinge, wieso hat man sie in der Zwischenzeit nicht verurteilt? | |
Weil sie nichts getan haben. Die meisten von ihnen waren nie für al-Qaida | |
tätig. | |
Wie sind die da reingekommen? | |
Mehr als drei Viertel der Häftlinge sind Kopfgeldjägern in die Fänge | |
geraten, nur fünf Prozent wurden von der US-Armee festgenommen. | |
Das waren doch bestimmt alles fanatische Krieger? | |
Eigentlich nicht, eher ein bunter Haufen: Fahrer, Köche und Kinder. | |
Kinder? | |
Ja, alles in allem 21 Kinder. | |
Um so mehr Grund, sie freizulassen? | |
Geht nicht, sie sind nicht unschuldig gesprochen worden. | |
Und weshalb hat man sie nicht in normale Gefängnisse überführt? | |
Weil normale Gefängnisse nur für Leute sind, die das Gesetz gebrochen | |
haben, und die meisten Häftlinge in Guantánamo haben sich, wie gesagt, | |
nichts zuschulden kommen lassen. | |
Aber einige von ihnen sind doch bestimmt vor Gericht gestellt worden? | |
Vor Militärtribunale, ja, es gab sogar sieben Verurteilungen. | |
Und was ist mit denen geschehen? | |
Die durften alle Guantánamo verlassen: Vier werden in ihren jeweiligen | |
Heimatländern festgehalten, drei weitere sind inzwischen freigelassen | |
worden. | |
Also ist es besser, schuldig zu sein? | |
Das ist etwas schematisch gedacht. | |
Wieso werden die anderen nicht in ihre Heimatländer zurückgeschickt? | |
Weil sie gefährlich sind. | |
Ich dachte, sie haben nichts getan? | |
Sie könnten aber etwas tun. Weil sie seit zehn Jahren festgehalten werden, | |
ohne etwas getan zu haben, sind sie jetzt vielleicht der Überzeugung, sie | |
sollten zukünftig etwas tun. | |
Das ist ja verflixt. | |
Nein, eigentlich nicht, es setzt nur eine gewisse mentale Flexibilität | |
voraus. | |
Und jetzt befinden sie sich im Hungerstreik? | |
Mehr als hundert von ihnen, seit Februar. | |
Wieso gerade jetzt? | |
Obama hat sie in seiner Regierungsansprache nicht einmal erwähnt. Sie | |
hatten gehofft, er hält sein Versprechen und schließt Guantánamo. | |
Kann er das nicht? | |
Die Hände sind ihm gebunden. Der Präsident der USA hat keine so | |
weitreichenden Befugnisse. Er darf Kriege anzetteln und Verdächtige in | |
fernen Ländern ermorden lassen, aber er darf Unschuldige nicht freilassen. | |
Wie kann es sein, dass die Hungerstreikenden immer noch am Leben sind, | |
obwohl sie seit Monaten Essen verweigern? | |
Sie werden zwangsernährt, über einen Schlauch, der in die Speiseröhre | |
gesteckt wird. Ist nicht so angenehm wie es klingt. | |
Wieso zwingt man sie? | |
Na, wenn sie sterben würden, könnten sie nicht länger auf Guantánamo | |
festgehalten werden. | |
Wahnsinn, wenn das die Zuständigen wüssten. | |
Das pfeifen die Adler von allen Überwachungstürmen. Mehr als 200 | |
FBI-Agenten haben Fälle von Folter gemeldet und sieben Militärstaatsanwälte | |
haben um Versetzung gebeten oder sind zurückgetreten, weil sie das | |
Verfahren als rechtswidrig bezeichnet haben. | |
Da hat es aber bestimmt deftige Demos gegeben, oder? | |
Eigentlich nicht. Wir waren außerdem in letzter Zeit abgelenkt von dem | |
Pussy-Riot-Prozess in Moskau. | |
Was war das? | |
Eine andere Schweinerei. Aber wenigstens haben die russischen Richter die | |
großartige Tradition des Femegerichts bewahrt. | |
30 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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