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# taz.de -- NSU-Helfer Carsten S.: Kein Vergessen
> Er ist der Mann, der dem NSU die Mordwaffe geliefert hat. Nach seinem
> Coming-Out suchte er ein neues Leben. Viele Jahre später holt ihn die
> Vergangenheit ein.
Bild: Der Angeklagte Carsten S. im OLG München neben seinem Anwalt.
Carsten S. hatte ein neues Leben. Ein Diplom in Sozialpädagogik. Einen Job
bei der Aids-Hilfe in Düsseldorf. Eine gemeinsame Wohnung mit seinem
Partner. Einen bürgerlichen Bekanntenkreis, zu dem auch Mitarbeiter der
Staatskanzlei und von Bundestagsabgeordneten gehörten.
Doch die Vergangenheit lässt sich nicht einfach abhaken.
Nicht so eine.
Saal A101, Oberlandesgericht München. Carsten S. hat die Kapuze seiner
blauen Jacke bis zum Kinn heruntergezogen, sein Kopf liegt auf dem Tisch.
Während Beate Zschäpe demonstrativ im Raum steht, wäre er wohl am liebsten
unsichtbar.
Er sitzt ganz hinten in der Ecke und wartet, bis die Fotografen weg sind.
Eine halbe Stunde dauert das am ersten Prozesstag. Dann erst zeigt er sein
Gesicht.
## Im Schutzprogramm
Carsten S. ist einer von fünf Angeklagten im NSU-Verfahren. Als Einziger
von ihnen macht er einen niedergeschlagenen Eindruck, schaut aus großen,
müden Augen ins Nichts. Immer wieder hält er sich die Hand vor den Mund,
verbeißt sich einmal sogar in sie. Als wolle er sich aus diesem
selbstverschuldeten Albtraum erwecken.
Doch er wird hier mindestens noch ein Jahr, eher zwei Jahre, vor den
Richtern sitzen müssen. Drei Tage jede Woche. Und danach womöglich noch
einige Zeit im Gefängnis.
Der heute 33-Jährige ist wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen angeklagt.
Er hat zugegeben, den NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos vor gut
13 Jahren eine Ceska-Pistole Modell 83 mit Schalldämpfer in den Untergrund
geliefert zu haben – mit dieser sollen die beiden von 2000 bis 2006 in ganz
Deutschland Migranten hingerichtet haben. Er habe „mit der Möglichkeit
gerechnet“ oder „zumindest billigend in Kauf“ genommen, dass die
abgetauchten Neonazis mit der Waffe rassistische Morde begehen, heißt es in
der Anklage.
Doch Carsten S. ist nicht nur Angeklagter, sondern auch einer der
wichtigsten Zeugen der Bundesanwaltschaft. In seinen Vernehmungen hat er
nicht nur sich selbst, sondern auch den nun schräg vor ihm auf der
Anklagebank sitzenden Neonazi Ralf Wohlleben schwer belastet; dieser soll
die Strippen bei der Beschaffung der Mordwaffe gezogen haben.
Das BKA hat Carsten S. deshalb ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen, seit
er vor einem Jahr aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Nicht mal sein
Anwalt Jacob Hösl weiß, wo er versteckt wird.
An diesem Dienstag geht in München der NSU-Prozess weiter, voraussichtlich
mit der Aussage von Carsten S. „Ich werde mich äußern“, sagte er am letzt…
Verhandlungstag vor zweieinhalb Wochen in das Mikrofon auf seiner
Anklagebank. Auch Fragen der Opfer-Hinterbliebenen will er beantworten.
Nach zähem Auftakt beginnt der bedeutendste Neonazi-Prozess der
Bundesrepublik nun richtig.
Die Biografie des Carsten S. ist die wohl bemerkenswerteste der fünf
Angeklagten. 1980 in Neu-Delhi zur Welt gekommen, wo der Vater als Kaufmann
für das Optikunternehmen Carl Zeiss arbeitete, verbrachte er zwei weitere
Jahre mit seinen Eltern in Belgrad. Ab dem vierten Lebensjahr wuchs er dann
in Jena auf, in den Hochhaussiedlungen von Lobeda und Winzerla.
## Irritierende Gefühle
In der Schule ist er ein Außenseiter. Mit 13, als unter Klassenkameraden
Nackt-Heftchen herumgereicht werden, habe er zum ersten Mal gespürt, dass
ihn das weibliche Geschlecht weniger interessiert und er eher auf Jungs
steht, erzählte er den Ermittlern. Als „Mädchen“ hänseln ihn die
Mitschüler. Er schiebt die irritierenden Gefühle weg. Bis zu seinem
Coming-out wird es noch lange dauern.
Erst folgen jene dunklen Jahre, an deren Ende Carsten S. Dinge tat, die
sich nicht wiedergutmachen lassen, selbst wenn er im Prozess allumfassend
auspackt.
Als Teenager entgleitet Carsten S. seinen Eltern. Er will sich abgrenzen.
Mit 16 fängt er zunächst in Niedersachsen eine Konditorlehre an, gerät dann
aber an eine Clique, die Autos knackt und sich im Hannoveraner Drogenmilieu
herumtreibt. Noch in der Probezeit fliegt er.
1996 holen ihn die Eltern nach Jena zurück, wo er eine Lehre als Lackierer
macht – und dann zum Neonazi wird. Im Lehrlingswohnheim teilt er sich ein
Zimmer mit einem rechtsradikalen Jungen und verguckt sich insgeheim in ihn.
Der hört Musik der „Zillertaler Türkenjäger“.
## Schwere Schuhe
Die Harte-Männer-Ästhetik, mit Springerstiefeln und Bomberjacken, habe bei
seinem Einstieg in die Neonaziszene eine Rolle gespielt, sagte Carsten S.
den Ermittlern in langen Gesprächen nach seiner Festnahme. In einem
„erotischen Sinne“. Damals sei ihm dies nicht bewusst gewesen, erst eine
Therapie beförderte es Jahre später zutage.
Die Eltern fanden die Neonazi-Subkultur furchtbar, aufhalten konnten sie
ihren Sohn nicht. Carsten S. schnitt sich die Haare kurz. Er besorgte sich
eine Armeehose und schwere Schuhe. Er ging auf Demos gegen die
Wehrmachtsausstellung und auf Veranstaltungen der NPD-Jugendorganisation
JN. Er lernte die Jenaer Neonazigrößen kennen, darunter das spätere
NSU-Trio; vor allem Böhnhardt imponierte ihm.
Carsten S. machte Karriere in der rechtsextremen Szene. Er wurde
NPD-Kreisvize, saß später sogar im Bundesvorstand der JN, indoktrinierte
andere Jugendliche. Einen „nationalen Sozialisten“ nannte er sich in dieser
Zeit.
Carsten S. ist überall dabei. Auch bei Gewalttaten.
Mal werfen die Neonazis die Scheiben eines türkischen Imbisses ein, dann
schubsen sie nachts in Jena-Winzerla eine Dönerbude um, wie er in seinen
Vernehmungen zugegeben hat. Einmal schlagen sie im Mob Neonazi-Gegner
zusammen. Auch Carsten S. tritt zu.
Ich bin wer: Dieses Gefühl habe er im Kreise der Kameraden vermittelt
bekommen, sagte Carsten S. den Ermittlern. Heute weiß er: „Ich habe mich
die ganze Zeit in der rechten Szene selbst beschissen.“
Einige Monate nachdem die Jenaer Neonazis Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe
1998 in den Untergrund gehen, wird er zum Kontaktmann der drei – eine Zeit
lang sogar zum wichtigsten. Er empfindet das als Ehre.
Carsten S. bunkert eigens ein Prepaid-Handy zu Hause, über das sie sich
regelmäßig Nachrichten zukommen lassen.
Der Verfassungsschutz observiert den jungen Neonazi, kriegt aber nichts
mit. Zumindest nicht das Entscheidende.
## Eine Ceska, die Mordwaffe
Vermutlich Ende 1999 bekommt Carsten S. einen Anruf von Mundlos und
Böhnhardt. Sie fragen ihn nach einer Knarre. Der Neonazi Ralf Wohlleben
habe ihn dann in einen Szeneladen in Jena geschickt, das „Madley“, wie
Carsten S. in Vernehmungen berichtete. Dort kriegt er tatsächlich eine
Pistole: Es soll die Ceska Zbrojovka, Kaliber 7,65 Millimeter, mit der
Seriennummer 034678 gewesen sein. Die Mordwaffe.
Kurz darauf setzt sich Carsten S. mit einem Rucksack in den Zug nach
Chemnitz, wo sich die NSU-Terroristen in den ersten beiden Jahren im
Untergrund verstecken. Als er am Bahnhof der sächsischen Stadt ankommt,
fordern ihn Mundlos und Böhnhardt auf, seinen Pullover auszuziehen. Viel zu
auffällig! ACAB steht vorn darauf. All cops are bastards. Auf der
Rückseite: ein Skinhead, der einem Polizisten eine Pistole an den Kopf
hält.
Zusammen gehen sie zu einem Abbruchhaus, wo Carsten S. den Neonazis die
Ceska samt Schalldämpfer übergibt. Es ist der Fehler seines Lebens. Mehr
als zehn Jahre nach seinem Ausstieg aus dem Rechtsextremismus wird er ihn
einholen.
Noch im Lauf des Jahres 2000 dämmert es Carsten S., dass er in der
Neonaziszene völlig falsch ist. Erste Zweifel kommen ihm, als ihn die
Polizei im Sommer in „Unterbindungsgewahrsam“ steckt, damit er sich nicht
an radikalen Aktionen zum Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß
beteiligen kann.
Dann sieht er auf 3sat den Film „Beautiful thing – die erste Liebe“. Es i…
die Geschichte eines komplizierten Coming-outs. Es ist auch seine
Geschichte.
Die Rechtsextremen wollen ihn eigentlich zum Thüringer Landeschef der
NPD-Jugendorganisation JN machen – doch Carsten S. beschließt: Ich steige
aus. Damit sei „eine Hülle weggeplatzt“ von ihm.
Er stürzt sich in die Schwulen- und Technoszene. Macht das Fachabi für
„Gesundheit und Soziales“, zieht 2003 nach Nordrhein-Westfalen und studiert
an der FH in Düsseldorf Sozialpädagogik. Von 2006 an arbeitet er bei der
Aidshilfe, verteilt Kondome, jobbt später zusätzlich noch auf
400-Euro-Basis im schwul-lesbischen Jugendclub Puls.
Er hat jetzt ein neues Leben – mit einem dunklen Geheimnis.
Carsten S. macht keinen Hehl daraus, dass er mal rechtsextrem war – aber
dass er Untergrund-Neonazis eine Waffe besorgt hat, behält er für sich.
Hat er sich in all den Jahren wirklich nie gefragt, was die mit der Pistole
vorhatten? Warum hat er der Polizei keinen Tipp gegeben, wenigstens anonym?
## Verhaftung um 5.57 Uhr
November 2011. Überall laufen Bilder von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe.
Zwickau. Terrorzelle. NSU. Es ist der Moment, in dem Carsten S. sein
früheres Leben einholt.
Nun offenbart er sich seinem nächsten Umfeld: Er habe denen vor Jahren eine
Waffe geliefert und Angst, damit könnten Menschen umgebracht worden sein.
Carsten S. nimmt sich einen Anwalt, Jacob Hösl, ein Urgestein der
Aidsarbeit aus Köln. Mehrere Male reden sie miteinander, was er nun tun
solle. Am Nachmittag des 1. Februar 2012 wollten sie darüber sprechen, dass
Carsten S. sich selber bei der Bundesanwaltschaft melden und aussagen
solle, so der Verteidiger. Dazu kommt es nicht mehr.
Um 5.57 Uhr stürmen an jenem Morgen Spezialkräfte der GSG 9 die Wohnung von
Carsten S. und dessen Lebenspartner in Düsseldorf-Oberbilk. Ein
Hubschrauber fliegt ihn nach Karlsruhe, wo ihm ein Richter den Haftbefehl
eröffnet.
Als er gegenüber den Ermittlern schließlich zugibt, die mutmaßliche
Mordwaffe geliefert zu haben, fängt er an zu weinen: „Ich dachte, ich muss
mich nie mehr mit dem Carsten von damals auseinandersetzen.“
4 Jun 2013
## AUTOREN
Wolf Schmidt
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Beate Zschäpe
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