| # taz.de -- Die Wahrheit: Das Gegenteil des Irrtums | |
| > Nichts Weltbewegendes kann ich schildern, nur etwas von einem Kumpel, dem | |
| > neulich ein Fertigteil seines ohnehin morschen Gedankengebäudes jäh | |
| > zerschellte. | |
| Bild: Auf dem Flur eines Finanzamts im Zentrum von Athen warten stoisch griechi… | |
| Nein, ich kenne niemand, der in Oklahoma City wohnt, von diesem Tornado | |
| oder dem nächsten – alljährlich wirbeln etwa eintausend im mittleren Westen | |
| der USA – kann ich nichts berichten. Ich kann auch nichts von brennenden | |
| Autos in Schweden erzählen oder von den Protesten der Jugendlichen in | |
| Spanien, Portugal und Griechenland. | |
| Weder wohne ich in einer der 500.000 Wohnungen, die vor der aktuellen | |
| Volkszählung hierzulande nicht existierten, noch gehöre ich zu den 1,5 | |
| Millionen Menschen, die irrtümlich als vorhanden galten und sich in Luft | |
| aufgelöst haben. | |
| Nichts füge ich hier ein über das Paar in den Trümmern der eingestürzten | |
| Fabrik am Stadtrand von Bangladesch, jenes tote Paar, das durch das Foto | |
| von Taslima Akhter berühmt wurde. Möge der Augenschein der beiderseitigen | |
| Umarmung nicht trügen. | |
| Ach ja, ich verpasste, am Donnerstag zur Stelle zu sein, als hier in der | |
| Nähe eine Radlerin auf einer wegen des Hochwassers gesperrten Straße von | |
| der Strömung erfasst wurde und stürzte. Sie starb im Krankenhaus. | |
| Nichts Weltbewegendes oder Sensationelles kann ich schildern, nur etwas von | |
| einem Kumpel, dem neulich ein Fertigteil seines ohnehin morschen | |
| Gedankengebäudes jäh zerschellte. | |
| Seit Jugendtagen begleitet K. ein Song von Bob Marley: „No Woman, No Cry“. | |
| Der Song, vielmehr der Refrain samt den geruhsamen Reggae-Rhythmen und der | |
| kinderliedhaften Melodie hatten sich im Gedächtnis eingehakt und verknüpft | |
| mit der Botschaft, ein Leben ohne eine felsenfeste Freundin koste weniger | |
| Tränen als ein Leben mit. Die entsprechenden Synapsen hatten sich | |
| miteinander verwoben. Das heißt umgekehrt, im Laufe der Jahre erklang der | |
| Song, sobald K. das Ende einer Liebe erlitten hatte oder wenn er von der | |
| Trennung eines Paares hörte. Reflexhaft blendete der Song auf: Ist die Frau | |
| weg, hat man Ruhe – No woman, no cry oder: Keine Frau, kein Geschrei. | |
| Ein Lied als Trostpflaster, das Marley einem Typen in der Nachbarbaracke in | |
| Trench Town vorsingt oder einem Freund, den das Alleinsein in Verzweiflung | |
| stürzt. Halb so schlimm, wir werden uns einen leckeren Haferbrei kochen | |
| („Porridge“), miteinander teilen und überhaupt sind die Füße das einzige | |
| Fahrgestell („carriage“); man treibt voran, everything’s gonna be alright. | |
| Inmitten der Epoche grenzenloser Vernetzung stieß K. jetzt unvermutet auf | |
| die Offenbarung, dass der Song etwas vollkommen anderes meint. Das zweite | |
| „no“ hier – erklären die einschlägigen Schlaumeier – entspreche in der | |
| jamaikanisch-kreolischen Sprache einem „don’t“: Das Lied wendet sich an | |
| eine Frau, die zu trösten ist. Als „darlin’“ und „sister“ ward sie s… | |
| Song angesprochen, aber K. hatte es überhört. | |
| Ein einziges Komma freilich, das nach dem ersten „no“, hätte K. vielleicht | |
| schon früher vermuten lassen, der Song skizziere ein gänzlich anderes | |
| Szenario. Ein Komma hätte womöglich K.s Sound of Love umgewandelt, anders | |
| tariert und zuversichtlicher gestimmt. Doch wer weiß? Bleibt nur eine | |
| Frage: Was ist eigentlich das Gegenteil von Irrtum? | |
| 4 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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