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# taz.de -- Die Wahrheit: Unter Wartegeiern
> Bericht direkt von der Krisenfront: Wie es im Inneren eines griechischen
> Finanzamts zugeht.
Bild: Auf dem Flur eines Finanzamts im Zentrum von Athen warten stoisch griechi…
Nicht nur Wolfgang Schäuble und die EU-Troika verlangen, dass die
griechische Verwaltung modernisiert wird, sondern auch die Griechen selbst,
die tagtäglich mit ihr leben und sterben müssen. Bevor man aber etwas
verändert, muss man erst einmal verstehen, wie griechische Verwaltungen,
aber auch die Griechen, funktionieren.
Fangen wir also an, zu verstehen. Ort des Geschehens: ein Finanzamt in
Thessaloniki. Ein dreistöckiger Funktionsbau aus den siebziger Jahren, der
einen Anstrich gut vertragen könnte. Der Sachverhalt ist wie folgt: Ein
Sohn möchte den verstorbenen Vater beim Finanzamt abmelden und das Erbe
annehmen. Der Nachlass besteht aus einem im vergangenen Jahrhundert
hergestellten, schrottreifen Lada, der allerdings geerbt werden muss, bevor
er abgemeldet und verschrottet werden kann.
Bevor aber jemand, der die letzten 35 Jahre ausschließlich mit der
deutschen Bürokratie zu tun hatte, sich auf den Weg zu einem Behördengang
in Griechenland macht, ist er auf die guten Ratschläge der Einheimischen
angewiesen, die auch gern gegeben werden. Spätestens um acht Uhr morgens
müsse man dort sein, heißt der erste Ratschlag, weil dann alle Wartenummern
verteilt sind.
## Basar-Atmosphäre im zweiten Stock
Die Frage allerdings, bis wann das Finanzamt aufhat, kann keiner richtig
beantworten. Dass es länger als 13 Uhr geöffnet haben könnte, kann sich
keiner vorstellen. Damit der Erbe am nächsten Tag nichts Falsches tut,
unternimmt er vorab eine Ortsbegehung. Vorsichtshalber nimmt er schon
einmal alle Dokumente mit und kommt um 12.40 Uhr im Finanzamt an.
Im zweiten Stock, wo man die Abmeldung vornehmen muss, dauert es nicht
lange, bis er den Überblick verliert. Auf dem breiten Flur herrscht
Basar-Atmosphäre. Menschen bewegen sich scheinbar ziellos und in der Regel
mit einem Handy am Ohr umher, während andere apathisch auf improvisierten
Sitzmöglichkeiten sich ihrem Schicksal ergeben zu haben scheinen.
Drei Anlaufstellen sind zu erkennen. Drei lange Tresen, die auf Brusthöhe
eine durchgehende Öffnung lassen, durch die man mit der Sachbearbeiterin
kommuniziert. Darüber befindet sich eine Glasscheibe, durch die man freien
Blick auf das Geschehen im Raum dahinter hat. Vor den Tresen stehen
Menschen. Eine Schlange oder ähnliches ist nicht auszumachen.
Schüchtern tastet sich der Erbe zu einer Sachbearbeiterin vor, um
nachzufragen, ob es wohl Wartenummern gibt. Irgendwo soll es eine Liste
geben, wo man sich eintragen kann, lautet die Antwort. Wo sich allerdings
diese Liste befindet, weiß sie auch nicht. Das wissen aber die Menschen vor
dem Tresen, die mit Argusaugen darauf achten, dass die Reihenfolge
unbedingt eingehalten wird. Warteschlange kann man diese Ansammlung vor dem
Tresen nicht nennen, eher Wartegeier!
## „Die ist nicht erforderlich!“
Die Wartezeit an einem solchen Ort darf man sich aber nicht als eine
langweilige Angelegenheit vorstellen. Im Gegenteil, es passiert eine ganze
Menge. Gerade beschimpft eine Sachbearbeiterin lauthals eine Frau, die es
gewagt hat, durch die geöffnete Tür das Büro zu betreten. Die Frau steht
wie ein begossener Pudel da und weiß nicht recht, was sie tun soll. Sie
steht und steht, bis die Sachbearbeiterin zurückkommt und sich in einem
plötzlich erstaunlich freundlichen Tonfall ihrer Angelegenheit annimmt.
Als der Erbe an der Reihe ist, kann er fast triumphierend jedes notwendige
Dokument hervorzaubern, dass die Sachbearbeiterin verlangt. Bis auf eines:
eine Bescheinigung vom Friedensgericht. „Ich habe aber die vom
Amtsgericht“, stottert der Erbe. „Nein! Die reicht nicht aus!“, erwidert
sie. Schon fängt er an, seine sämtlichen Papiere wieder einzusammeln, als
hinter ihm Stimmen laut werden: „Die ist nicht erforderlich!“, ruft eine
Frau der Sachbearbeiterin zu. Bald singt ein ganzer Engelschor um den Erben
herum: „Die ist nicht erforderlich!“ Auf so viel engelsgleiche Solidarität
ist die Sachbearbeiterin nicht gefasst und gibt klein bei.
Von der Euphorie des Sieges beflügelt, begibt sich der Erbe in den ersten
Stock, wo er die Erbschaft offiziell annehmen muss. Dort sitzt er zwar
gemütlich auf einem Stuhl, ist aber leider allein mit der neuen
Sachbearbeiterin. Schon fehlt ihm die Unterstützung der liebgewonnenen
Leidensgenossen. Und prompt besteht die Sachbearbeiterin darauf, dass die
eingereichte Vollmacht nicht ordnungsgemäß ausgestellt ist. Der Erbe muss
doch noch einmal erscheinen.
Fast, ja fast hätte unser Held, der tapfere Erbe, es geschafft und die
griechische Verwaltung mit stoischer Geduld und dem Gefühl hellenischer
Zusammengehörigkeit überlistet. Aber morgen ist ja auch noch ein Tag.
Übrigens: Das Finanzamt hat bis 14.30 Uhr geöffnet. Täglich!
30 Sep 2013
## AUTOREN
Nikos Theodorakopoulos
## TAGS
Krise
Finanzamt
Bürokratie
Griechenland
Tornado
Die Wahrheit
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