| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Halbwertzeit von Jubelfesten | |
| > Für B. änderte sich am Freitag, den 26. Juli, die Perspektive auf seinen | |
| > eigenen 60. Geburtstag im Herbst schwerwiegend. | |
| Bild: ... und nach dem Aussteigen immer links ums Auto gehen. | |
| Ob in den Wissenschaften, im Netz oder im medialen Boulevard: Kaum eine | |
| Woche verstreicht ohne den berühmten Paradigmenwechsel. Weltbilder wandeln | |
| sich vermeintlich, Blickwinkel und Denkmuster. Ach ja, auch in der | |
| Nachbarschaft geschieht das beständig. Bisweilen kann man das Datum präzise | |
| festhalten. | |
| Für B. zum Beispiel änderte sich am Freitag, den 26. Juli, die Perspektive | |
| auf seinen eigenen 60. Geburtstag im Herbst schwerwiegend. Bis zu jenem Tag | |
| fehlte ihm jedwede Gelassenheit, der Fälligkeit entgegenzuschauen. Ich | |
| hatte ihm im Vorbeigehen Zahlenfetischismus vorgeworfen, das Starren auf | |
| den Kalender, der doch in gewisser Hinsicht eine Schimäre sei. Aber B. | |
| zagte, die Aussicht auf die sechs vorne biss sich fest. Vielleicht hatten | |
| daran seine zwei leichten Schlaganfälle im vorigen Jahr ihren Anteil. | |
| Am 26. Juli beging Mick Jagger seinen 70. Geburtstag. Man dürfe von den | |
| Rolling Stones halten, was man wolle, meinte B. mit zittriger Stimme, | |
| zwischen Bäckerei und Waschsalon, aber wie Jagger sich auf der Bühne windet | |
| und räkelt, herumwirbelt, hüpft und zappelt, sich verrenkt – doll! Und wie | |
| er es vorführe, sei eben nicht peinlich. | |
| Statt B. gegenüber vom Fitnesswahn, vom womanizernden Großvater Jagger oder | |
| von 80-jährigen Bluesmusikern zu faseln, geduldete ich mich mit einem | |
| Kontra bis zu unserer nächsten Zufallsbegegnung. Die ergab sich nahebei auf | |
| jener Parkwiese, die exakt so aussieht, als sei sie der im Londoner Maryon | |
| Park nachempfunden, wo Schlüsselszenen in Antonionis Film „Blow Up“ | |
| spielen. | |
| Die surreale Anmutung trug wohl dazu bei, dass ich einen anderen Umgang mit | |
| Geburtstagen vorschlug. Man könne sich doch auf die Ordnungszahlen der | |
| chemischen Elemente einlassen. Nicht dass ich davon etwas verstehe, aber | |
| das Periodensystem vermag man ja rasch aufzurufen. Nehmen wir Jaggers | |
| derzeitige Ordnungszahl 70. | |
| Das Element nenne sich Ytterbium und sei ein „weiches, dehnbares, | |
| silbrig-weißes Metall“, wie ich im aktuellen Notizbuch vorsichtshalber | |
| vermerkt hatte. Es werde „in Legierungen rostfreier Spezialstähle“ | |
| verwendet. | |
| „Aha“, sagte B. und blinzelte in die Sonne, nachdem er sich gereckt und | |
| gestreckt hatte: „Und die 60?“ Hatte ich auch in die Kladde übertragen. | |
| „Heißt Neodym. Wurde 1895 entdeckt. Wird etwa in – Moment – Legierungen … | |
| Dauermagneten wie in Kernspintomografen und in Speziallasern eingesetzt. | |
| Gehört zu den Metallen der seltenen Erden.“ | |
| „So, so. Dauermagnete, seltene Erden“, sagte B. „Wie viele Elemente gibt … | |
| denn eigentlich?“ – „Wie alt man werden kann, meinst du“, antwortete ich | |
| gerissen und fügte hinzu: „Habe ich’s richtig verfolgt, sind derzeit 118 | |
| Elemente bekannt, von denen sich manche nur künstlich herstellen lassen. | |
| Von wegen Halbwertzeit und so, irgendwie. Ich frag lieber: Willst du 110 | |
| werden und als Paten das Element Darmstadtium begrüßen?“ | |
| Ob diese raffinierte Pointe als Paradigmenwechsel genügte? Ich pfiff mir | |
| eins: You can’t always get what you want. | |
| 7 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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