# taz.de -- Debatte Aufstand in Syrien: Morgen ist es zu spät | |
> Wenn der Westen uns jetzt nicht hilft, dann haben wir gegen die | |
> Islamisten keine Chance. Ein Aufruf eines syrischen Oppositionellen. | |
Bild: „Nicht ein einziger Tag verging ohne Tote, mal sind es zwei oder drei, … | |
Vor drei Monaten habe ich Damaskus verlassen. Das Leben dort wurde zu | |
schwierig, also ging ich in die „befreiten“ Gebiete in Ost-Gouta. Vor den | |
Aufständen lebten hier zwei Millionen Einwohner, jetzt dürften es noch eine | |
Million sein. Hier war die Basis für die Rebellen, um in die Hauptstadt | |
vorzudringen, doch inzwischen ist die Gegend dank der neuerlichen | |
Unterstützung durch Russland, Iran und die Ankunft der vom Iran | |
finanzierten irakischen und libanesischen Milizen unter der Kontrolle des | |
Regimes. (…) | |
Die Städte, die ich gesehen oder in denen ich während der letzten Monate | |
gelebt habe, sind täglich Luftangriffen ausgesetzt. Jeden Tag schlagen hier | |
Granaten und Raketen ein und sterben Menschen, meist Zivilisten. (…) Nicht | |
ein einziger Tag verging ohne Tote, mal sind es zwei oder drei, dann neun, | |
an einem anderen Tag 28, am nächsten wieder 11. (…) Auch Kämpfer werden | |
jeden Tag getötet. | |
## Bloß keine Versammlungen | |
Die letzten acht Monate war die gesamte Region ohne Strom. Die Leute sind | |
abhängig von Generatoren, die leicht kaputtgehen, viel Benzin verbrauchen, | |
das immer knapper wird. Trotz glühender Hitze bleiben die Kühlschränke | |
abgeschaltet. | |
Während der ersten Tage fiel mir auf, dass die Freitagsgebete bereits um 9 | |
Uhr morgen in der einen Moschee, eine halbe Stunde später in einer anderen | |
stattfinden, und so weiter, immer mit einer halben Stunde Verschiebung. Man | |
wollte größere Versammlungen verhindern, um dem Regime keine Gelegenheit zu | |
geben, viele Menschen auf einen Schlag zu töten. In einer anderen Stadt | |
hatte es bereits fünf Moscheen bombardiert. | |
Schmerzhafter ist, dass zwei Drittel der Kinder nicht zur Schule gehen | |
können. Sei es, weil ihre Eltern sie aus Angst nicht aus den Augen lassen | |
wollen oder kaum noch Schulen erreichbar sind. Die wenigen, in denen noch | |
unterrichtet wird, finden sich in Kellern, um der Bombardierung zu | |
entgehen, genauso wie die ein oder andere Krankenstation. | |
Die Leute hier kämpfen mit absoluter Entschlossenheit, denn sie wissen, | |
dass sie ein großes Massaker erwartet, wenn das Regime die Kontrolle über | |
die Region gewinnt. Die, die nicht getötet wurden, würden sofort verhaftet | |
und massiv gefoltert. Die Wahl, die die Leute haben: Entweder sie | |
widerstehen sie den Angriffen dieses faschistischen Regimes oder sie werden | |
von ebendiesem auf grausame Weise ermordet. Bei dem Gedanken, das Regime | |
könnte wieder regieren, zittern die Leute vor Angst, genauso wie ich vor | |
Angst zittere. | |
## Assads Verbündete handeln, der Westen bleibt passiv | |
Die gegenwärtige Situation ist das unmittelbare Ergebnis des Unwillens der | |
Supermächte, die syrischen Revolutionäre zu unterstützen. Indessen haben | |
die Verbündete des Regimes dieses nicht nur ununterbrochen mit Geld, | |
Männern und Waffen versorgt, sondern die Unterstützung qualitativ und | |
quantitativ sogar hochgefahren. | |
Nachdem die Welt es endlich als erwiesen ansah, dass das Regime chemische | |
Waffen eingesetzt hat (ich selbst habe das gemeinsam mit entsprechend | |
ausgebildeten Freunden dokumentiert), und nachdem im Zuge dieser Festellung | |
das Regime rückversichert wurde, es könne zwar kein Gas, aber weiterhin die | |
Luftwaffe und Langstreckenraketen einsetzen gegen Städte und Wohngebiete – | |
nach alldem hat der Westen entschieden, die Rebellen mit Waffen zu | |
versorgen, um die „Balance“ wieder herzustellen. Deren Irritation haben sie | |
jedoch selbst mit ihrer Passivität erleichtert. | |
Die Politik ist nicht nur kurzsichtig und verlängert den Konflikt, sie ist | |
zutiefst unmenschlich. Es gibt keine gleichgewichtigen Bösen in Syrien – so | |
wie es die Mehrheit der westlichen Medien behauptet, im Kontrast zu den | |
Berichten der UN und anderer internationaler Organisationen. Es gibt nur | |
ein faschistisches Regime, das bereits mehr als 100.000 Syrer getötet hat, | |
auf der einen Seite, und auf der anderen diverse revolutionäre Gruppen, von | |
denen manche sich im Laufe des anhaltenden Konflikts radikalisiert haben. | |
Und der Widerstand der syrischen Gesellschaft gegen diese Radikalisierung | |
wird schwächer. | |
Je länger die Syrer alleine gelassen werden und je mehr sterben, desto | |
größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die radikalen Gruppen an Stärke | |
gewinnen und die Stimmen der Vernunft und des Ausgleichs an Einfluss | |
verlieren. Genau das passiert im Moment. Wann immer es neue Opfer gibt, | |
besonders wenn es sich um Kinder handelt, sehen mich die Leute mit | |
prüfenden Augen an. Sie fragen sich, welchen Wert die „vernünftige“ Sprac… | |
noch hat, die ich spreche. | |
## Es sind Faschisten am Werk | |
Von einem syrischen und menschlichen Standpunkt aus gesehen, gibt esnur | |
eines zu tun: Helft den Syrern sich von der Dynastie Assads zu befreien, | |
die das Land als Beute und die Bevölkerung als Diener begreift. Nichts wird | |
einfach sein in Syrien nach Assad, aber ihn zu abzusetzen wird eine | |
moderatere Dynamik in der Gesellschaft in Gang setzen und Syrern | |
ermöglichen, gegen radikalisierte Landsleute Widerstand zu leisten. Das ist | |
besser, als den Konflikt einfach weiter eskalieren zu lassen und dabei | |
zuzusehen, wie Syrer von russischen Waffen getötet werden, die in den | |
Händen von lokalen, libanesischen und iranischen Mördern liegen. Es ist | |
auch weniger schlimm, als ein Abkommen zu erzwingen, das die Kriminellen | |
unbestraft und die Probleme in Syrien ungelöst lässt. | |
US-amerikanische und westliche Politiker haben oft darauf bestanden, dass | |
es keine militärische Lösung für Syrien geben kann. Aber wo ist die | |
politische Lösung? Wann hat Baschar Assad in den letzten 28 Monaten und | |
nach über 100.000 Toten ernsthafte Verhandlungen angeboten und sich bereit | |
gezeigt, die Macht zu teilen? Die Wahrheit ist, es wird keine politische | |
Lösung geben, solange Assad nicht zum Rücktritt gezwungen wird und mit ihm | |
die Meister des Todes in seinem Regime. | |
Liebe Freunde, ich wende mich heute an Sie, weil die syrische Tragödie sich | |
zu einem der größten und gefährlichsten Probleme in der Welt ausgeweitet. | |
Mehr als ein Drittel der Bevölkerung sind auf der Flucht, innerhalb und | |
außerhalb des Landes, Hunderttausende sind verletzt oder kriegsversehrt, | |
und etwa 250.000 Menschen werden in den Gefängnissen auf unvorstellbare | |
Weise gefoltert. | |
Als Meinungsmacher in Ihren Ländern flehen wir Sie an: Üben Sie Druck auf | |
Ihre Regierungen aus, damit Assad zurücktreten muss und das Regime fällt. | |
Das ist die einzige humane und progressive Sache, die es zu tun gilt. Denn | |
nichts ist reaktionärer in der Welt von heute als ein Regime, das die | |
„eigene“ Bevölkerung ermordet, Mörder und Söldner aus dem Ausland | |
importiert, um einen sektiererischen Krieg zu führen, der nicht enden wird, | |
bevor weitere Hunderttausend Menschen gestorben sind. | |
Wir brauchen Ihre Unterstützung jetzt. Morgen ist es vielleicht zu spät. | |
Der Aufruf erschien bereits im Guardian, in Le Monde, an-Nahar und El | |
Mundo. | |
Übersetzung aus dem Englischen: Ines Kappert | |
19 Jul 2013 | |
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