Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Jugendforscher über Rebellentum: „Die Jungen werden entmündigt�…
> Klaus Farin hat vor 15 Jahren das Berliner Archiv der Jugendkulturen
> gegründet. Ein Gespräch über Punk in Gelsenkirchen, Komasaufen und
> Konservatismus.
Bild: Nicht viel Zeit zum Ausbrechen: Die meisten Jugendlichen sind vor allem m…
taz: Herr Farin, in Ihrem hauseigenen Verlag erschien neulich das Buch
„Performer, Styler, Egoisten“ des österreichischen Jugendforschers Bernhard
Heinzlmaier. Der blickt mit Missfallen auf die Jugend von heute, sprach in
einem Interview gar von „angepassten Hosenscheißern“. Teilen Sie diese
Ansicht?
Klaus Farin: Das Buch provoziert, weil man als Jugendforscher so eigentlich
nicht sprechen darf. Es ist unsere Rolle, die Jugend zu verteidigen, gegen
eine überwiegend negative Berichterstattung etwa. Wenn Heinzlmaier, den ich
seit 20 Jahren kenne, jungen Leuten vorwirft, blöd und egoistisch zu sein,
greift er damit die Erwachsenen an.
Jugend lebt ja nicht im gesellschaftlichen Vakuum. Freiräume verschwinden.
Unis werden verschult, Angebote, die keinen konkreten ökonomischen Nutzen
bringen, ausgedünnt. Erziehung zur Kritikfähigkeit, zur Mündigkeit ist
weniger gefragt als Anpassung. Daran sind die Erwachsenen schuld. Das Buch
ist ein intelligentes Pamphlet gegen den geistigen Durchzug des
Neoliberalismus, nicht gegen die Jugend.
Die Jugend hat keine Ideale mehr – ist diese Klage nicht so alt wie die
Jugend selber?
Die Klage schon, aber empirisch sind Utopien seit etwa 25 Jahren auf dem
Rückzug. Noch bei den neuen sozialen Bewegungen in den Siebzigern ging es
auch immer um gesamtgesellschaftliche Vorstellungen. Allerdings waren die
Widerständigen auch schon früher Ausnahmen. Zu allen Zeiten waren
Jugendliche, wie die Alten auch, mehrheitlich unengagierte Couch-Potatoes.
Wie man das bewertet, ist eine Frage der Perspektive. Heinzlmaier ist
Pessimist, er stellt die Mehrheit in den Mittelpunkt. Dort stellt er fest,
dass man nur noch individuell durchkommen will. Milieus driften
auseinander: Wem es gut geht, kriegt nicht mehr mit, wie schlecht es
anderen geht.
Wir haben die reichste Jugend seit der Nachkriegszeit, aber auch wachsende
Jugendarmut. Diese beiden Gruppen interessieren sich immer weniger
füreinander. Dass die Empathiefähigkeit nachlässt, ist unumstritten in der
Forschung. Aber ich bin Optimist. Ich betrachte lieber die, die sich
engagieren. Die langweilige Mehrheit hat mich noch nie interessiert.
Sie gehörten mit 15 zu den Aktiven, gründeten in den frühen Siebzigern im
Ruhrgebiet eine Schülerzeitung. Wie waren die Jugendlichen damals drauf?
Im Nachhinein werden die Siebziger gern idealisiert. Aber meine Freunde und
ich, wir waren auch nur ein paar Spinner. Die Mehrheit meiner Mitschüler
waren in der Tanzschule. Die interessierten sich nicht für Berufsverbote,
Anti-AKW- oder Friedensdemos. Ich war jahrelang Schülersprecher, auch dafür
jemanden zu finden, war schwer.
Wenig später kam mit Punk eine neue Jugendbewegung über die Welt. Wie
veränderte das Ihr Leben?
Für mich veränderte Punk einiges, obwohl ich fast schon zwanzig war. Diese
totale Rebellion gegen die Verhältnisse, und zwar im Politischen wie in der
Musik, das war neu. Vorher hatte man Metal und Udo Lindenberg gehört, wurde
mit Jeanskutte und langen Haaren nicht in der Kneipe bedient, das waren
eher alltagskulturelle Erfahrungen. Punk hat das politisch fokussiert.
Wie sah das bei Ihnen aus?
Na ja, aufgerissene Hosen, abgeratzte Haare eben. Alle Konzerte, alle
Platten, die interessant waren, mitgenommen, neben der Schülerzeitung das
erste Fanzine im Eigenverlag herausgegeben. Und als in Gelsenkirchen ein
Haus besetzt wurde, war ich auch dabei.
Aber das meiste passierte natürlich in Berlin. Schon als Schüler bin ich ab
76, 77 immer hergetrampt und habe Plakate für den Berliner Karikaturisten
Ernst Volland verkauft. Ich wohnte über der Galerie am Chamissoplatz bei
einem Bekannten. 1980 kam ich plötzlich zu einer eigenen Wohnung, als im
„Heidelberger Krug“ einer sagte: „Scheiße, ich ziehe morgen aus und habe
noch keinen Nachmieter.“ Neukölln, ein großes Zimmer, 127 DM,
Altbauwohnung. Damit war mein Umzug nach Berlin beschlossene Sache.
Teil einer Szene bin ich hier aber nie geworden. Es war nicht nötig, was
Neues aufzubauen, es gab ja alles schon. Für mich war das eine Erholung: In
Gelsenkirchen hatte ich einen Terminkalender wie ein Abgeordneter, einen
kleinen Verlag, arbeitete im Jugendzentrum und nebenher in einer
Buchhandlung. Fast jede Woche bin ich mit dem Auto 100 Kilometer hin- und
zurück nach Lotte gefahren, um in unserer Stammdruckerei die gedruckten
Hefte Gelsenkirchener Schülerzeitungen und anderer linker Zeitschriften
abzuholen.
Sie kamen nach Berlin, um sich zu entspannen?
Ich lebte relaxt, arbeitete als Security bei Konzerten in der Waldbühne,
dem Quartier Latin, dem Metropol. Als Musikjournalist schrieb ich für
Tages- und Wochenzeitungen. Daneben gab ich Seminare über politische
Bildung. Das alles reichte mir, um über die Runden zu kommen. Ich brauchte
ja nicht viel, als Journalist kam ich schließlich umsonst in Konzerte und
an Bücher. 1985 habe ich dann mein Auto verkauft. Und, als ich einmal
wirklich pleite war, leider auch meine Plattensammlung. Mir war es am
wichtigsten, keinen Chef zu haben: Mein letzter Vorgesetzter war mein
Fahrlehrer.
Ihre Eltern im Ruhrgebiet waren wohl weniger begeistert …
Meine Mutter ist früh gestorben, und mein Vater machte sich um mich keine
Sorgen. Ich konnte ja von meiner Arbeit immer leben. Schon mit 16 oder 17
machte ich Beiträge für den WDR und die Jugendseite der WAZ. Mit 18 gab ich
an der Volkshochschule Kurse für Volontäre und Schülerzeitungsredakteure in
journalistischer Recherche. Das ging auch ohne eine professionelle
Ausbildung. In Duisburg habe ich mich einmal kurz für ein Studium
eingeschrieben, aber mich schreckte dieser Massenbetrieb ab: 150 Leute in
einem Seminar, und alle waren politisch so schlaff … ich fand es
befriedigender, selber was zu tun.
Sie haben sich darauf verlegt, das Politische im Alltag zu suchen. 1998
gründeten Sie das Archiv der Jugendkulturen – die taz nannte Sie einmal den
„Archivar der Jugendfrisuren“. Geht es jungen Leuten nicht tatsächlich vor
allem um die unpolitische Pose?
Natürlich geht es Jugendlichen vorrangig darum, sich zu präsentieren. Sie
haben auch genug Aufgaben zu bewältigen: Pickel, der erste Sex, das erste
Kiffen, Trinken, Jobschwierigkeiten. Und vor allem Spaß haben. Denn wann
sollte man Spaß haben, wenn nicht in der Jugendzeit?
Aber Jugend ist per se ein Politikum. Der Freiraum für Jugendliche
schwindet immer mehr, besonders in den Städten. Die Jungen werden
entmündigt, nicht ernst genommen, so wie die ganz Alten. Sie sind
kommerziell interessant, haben aber nicht viel zu sagen. Ich bin immer
wieder erstaunt, wie viel über die Jugend gesprochen wird und wie wenig mit
den Jugendlichen selbst. Jahrelang riefen bei uns im Archiv Anfang April
besorgte Lehrer an: Schülerinnen trügen eine schwarze Binde am Oberarm –
eine neue Sekte? Dabei waren es Trauerschleifen, denn der 5. April ist der
Todestag von Kurt Cobain. Aber gefragt hat man die Mädchen nicht.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie Prozesse wie den um Jonny K. verfolgen? Der
20-Jährige war am Alexanderplatz von sechs Jugendlichen totgeprügelt worden
– einfach so. Denkt man da nicht selbst als Jugendforscher: „So was hätte
es früher nicht gegeben?“
Nein, solche Fälle hat es auch schon in meiner Jugendzeit gegeben, und die
Zahl der Straftaten von Jugendlichen sinkt seit Jahren. Es wird nur mehr
berichtet. Mein Lieblingsbeispiel: An einer Schule ist ein Neonazi uns
Linken mit einer Gaspistole hinterhergerannt, er hat sogar geschossen. Wenn
das heute passieren würde, käme eine Kohorte von Kameras, es gäbe im
Landtag Debatten über neue Gesetze. Damals hat es der Typ nur in die
Lokalzeitung geschafft, er flog nicht mal von der Schule.
Jugendliche sind heute viel stärker unter Beobachtung und sie beobachten
sich selber. Jedes komasaufende Kind landet bei Facebook und in der
Abendschau. Früher hat man Besoffene liegen gelassen, damit sie ihren
Rausch ausschlafen. Insgesamt aber wird weniger getrunken als früher. Die
heutige Jugendgeneration ist die bravste seit Jahrzehnten.
Das „Archiv der Jugendkulturen“ hat nie Förderung erhalten [1][und stand
schon mehrmals vor dem Aus]. 2011 gründeten Sie eine Stiftung. Wie stehen
Sie heute da?
Die 100.000 Euro für die Stiftungsgründung haben wir zusammenbekommen.
Trotzdem wurde es erst mal schlimmer: Anfang 2011 mussten wir unsere alten
Räume aufgeben und in halb so große ziehen. Auch mein Plan, mich nach 13
Jahren endlich aus dem Vorstand zurückzuziehen und eine Geschäftsführerin
zu installieren, scheiterte an den Finanzen. Bis Ende 2013 wollen wir den
Haushalt sanieren, den Verein wieder auf die Beine stellen und uns um die
langfristige Existenzsicherung kümmern.
Das Archiv ist Ihr Lebenswerk – kann man sich da überhaupt zurückziehen?
Wenn die Einrichtung gesichert ist, kann man beruhigt abtreten. Mein Ziel
ist, in spätestens drei Jahren wieder in großen Räumen mit geregelten
Öffnungszeiten, einer ausgebildeten Bibliothekarin und einer bezahlten
Geschäftsführerin zu arbeiten. Initiativen wie das Archiv der
Jugendkulturen werden immer von „Verrückten“ gegründet, die ihr ganzes
Leben da reinstecken. Spätestens in der dritten Generation gehen solche
Vereine wieder ein, wenn das Engagement nicht durch bezahlte Stellen
abgesichert werden kann.
Kürzlich haben Sie mit dem Journalisten Eberhard Seidel Ihren Klassiker von
1991 neu aufgelegt: „Krieg in den Städten“. Damals interviewten Sie unter
anderem Mitglieder der migrantischen Kreuzberger Straßengang 36 Boys. Was
hat sich seit 1991 verändert auf den Straßen von Kreuzberg und Neukölln?
Erstaunlich wenig – wir haben es am Ende bei einem 20-seitigen Nachwort
belassen, mehr musste man nicht aktualisieren. Die Gangs und ihren
Dresscode gibt es nicht mehr, aber die Verhaltensmuster und Einstellungen
haben sich kaum verändert. Interessant ist, dass in unseren Interviews
damals das Wort „Muslim“ kein einziges Mal auftauchte, Religion war kein
Thema. Wir schrieben damals, es geht um Teilhabe, um Schulperspektiven und
Jobs. Das ist auch immer noch so – auch wenn über vieles jetzt ein
religiöser Guss gelegt wird.
Das kommt aber eher aus der Mehrheitsgesellschaft: Einen Glaubensboom unter
Muslimen konnte noch keine Studie bestätigen. Die Moscheen, die hier in
Berlin viel Jugendarbeit machen, sprechen nur von einem leichtem Zulauf.
Man darf bunte Phänomene wie die „Pop-Muslime“ oder die Jesusfreaks nicht
überbewerten. Die sind eine Zeit lang sehr prominent, aber keineswegs
prägend. Weder bei Muslimen noch bei Christen gibt es ein religiöses
Revival.
In welchem Alter ist es es normalerweise vorbei bei den Jugendlichen mit
dem wilden Szeneleben?
Mit Mitte, Ende zwanzig ist bei den meisten Schluss. Anfangs, im
Teenager-Alter geht es vor allem noch um Kleidung, Frisur,
Selbstdarstellung, da wächst man in eine Szene rein. Ab 17, 18 entwickeln
die Jugendlichen ein ernsthaftes Interesse an Musik. Die sind dann das
Rückgrat der Szenen: Bands, Locationbetreiber, Fanzine- oder Blogmacher.
Dann rücken allmählich andere Themen in den Vordergrund: Familiengründung,
Stress im Beruf, Ortswechsel. Musik wird zur Hintergrundtapete. So wächst
man langsam raus. Ab etwa 25, das bestätigt auch die Hirnforschung, ist die
Phase der Jugend, der existenziellen Neugierde und ständigen Veränderung,
vorbei.
Sie scheinen den Umbau Ihres Gehirns ja ganz erfolgreich verhindert zu
haben, zumindest wirken Sie nicht annähernd wie 55. Wie jugendlich fühlen
Sie sich?
Beruflich gesehen, wird man als ethnografischer Forscher schlechter, je
älter man wird: Man wird bequemer, will nicht mehr so oft raus. Früher ging
ich viermal die Woche ins Konzert, heute einmal im Monat. Und man ist nicht
mehr ganz so neugierig. Vieles kennt man schon, kriegt auch nicht mehr
alles mit. Deshalb sollte Jugendforschung immer von Jungen und Alten
zusammen gemacht werden: Die Jungen beobachten genauer, die Alten sind
bessere historisch-vergleichende Analytiker.
Aber wenn man interessiert bleibt, ist es kein Handicap, älter zu sein. Die
Jugendlichen freuen sich in der Regel, wenn sich jemand ernsthaft für sie
interessiert. Die finden es ungewöhnlich, dass jemand nicht kommt, um
pädagogisch auf sie einzuwirken, sondern, um etwas zu erfahren und von
ihnen zu lernen.
Andere in Ihrem Alter trinken Rotwein, haben einen Garten, machen schöne
Fernreisen …
Aus Rotwein mache ich mir immer noch nix. Aber auch ich bin konservativer
geworden. Ich höre immer noch am liebsten die Bands aus meiner Jugend:
Späte Sechziger, Siebziger. Wobei die Auswahl kleiner wird: Johnny Cash und
Joe Strummer kann ich nicht mehr live erleben, Jon Lord auch nicht. Und für
ein Konzert 80 Euro zu zahlen, das sehe ich auch nicht ein.
3 Aug 2013
## LINKS
[1] /!102150/
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Jugendkultur
Jugend
Erwachsen werden
Punk
Pubertät
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wie der Punk nach Hannover kam (V): Bloß weg nach Berlin!
Ist die Verwendung von Hakenkreuzen Punk oder bloß dämlich? Unser Autor hat
eine unangenehme Begegnung mit Schlägertypen, die er von früher kennt.
Die Rote Liste der Kultur: Kahlschlag statt Konzert
Das Berliner Archiv der Jugendkulturen, Sommertheater in Roßlau und die
Bergischen Symphoniker – drei Fallbeispiele für die allgegenwärtigen
Einsparungen im Kulturbereich.
Sticker-Ausstellung in Bremen: Am Tropf der Straße
Mit Künstlern wie Timm Ulrichs oder Klaus Staeck hat der Aufkleber Eingang
in die Kunst gefunden. Die Bremer Weserburg widmet dieser Entwicklung eine
Ausstellung.
Archiv der Jugendkulturen: Aus für Szeneforschung
Dem Berliner Archiv der Jugendkulturen droht das finanzielle Aus. Dabei
nimmt man Jugendliche dort ernst – ohne pauschales Gejammer über
Oberflächlichkeit und Verrohung.
Teil mehrerer Jugendbewegungen: Der Archivar der Jugendfrisuren
Im Archiv der Jugendkulturen leistet Klaus Farin seit 10 Jahren
Pionierarbeit. Die Sammlung zieht Interessenten aus ganz Deutschland nach
Kreuzberg. Ohne ehrenamtliches Engagement sähe das Archiv alt aus. Denn
Regelförderung fehlt.
Jugendmesse und Jugendkultur: "Wer will schon jung und normal sein?"
Die Jugendmesse YOU ist nur eine Präsentationsplattform für Marken, sagt
der Jugendforscher Klaus Farin. Über Trends, die den Nachwuchs bewegen,
erfahre man nichts
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.