# taz.de -- Archiv der Jugendkulturen: Aus für Szeneforschung | |
> Dem Berliner Archiv der Jugendkulturen droht das finanzielle Aus. Dabei | |
> nimmt man Jugendliche dort ernst – ohne pauschales Gejammer über | |
> Oberflächlichkeit und Verrohung. | |
Bild: Jugendkulturen wird es immer geben, ihr Archiv in Berlin Kreuzberg aber s… | |
BERLIN taz | Konzentrierte Stille herrscht im Raum, der bis obenhin | |
vollgestopft ist mit Büchern und Zeitschriften. Am Tisch sitzt eine junge | |
Frau und blättert in Büchern über Skinheads. Sie ist extra aus Österreich | |
angereist, um für ihre Diplomarbeit zu recherchieren. Auf dem Boden wühlt | |
sich ein Pärchen im Erstsemesteralter durch einen Stapel | |
Street-Art-Magazine. Eine Grundschulklasse stürmt die Zeitschriftenregale - | |
die Jungs und Mädchen wollen alles über ihre Lieblingszeitschrift Bravo | |
erfahren. Nach der stichprobenhaften Sichtung der Jahrgänge 1956 bis 2010 | |
("Was, so sah Madonna mal aus?!") ziehen sie beeindruckt von dannen. | |
Ein normaler Vormittag im Archiv der Jugendkulturen in Berlin-Kreuzberg. | |
Auf 700 Quadratmetern forschen Jung und Alt über die Jugend und können | |
dabei auf rund 6.000 Bücher, 400 wissenschaftliche Arbeiten, 28.000 | |
Zeitschriften sowie unzählige Tonträger, Presseausschnitte und Flyer | |
zurückgreifen. Wer an einer Masterarbeit über malayischen Punk schreibt | |
oder wissen will, ob Black Metal Gefahren fürs Seelenheil birgt, ist hier | |
richtig. | |
Wie lange noch, ist aber fraglich: Das Archiv steht vor dem finanziellen | |
Aus. Seit zwölf Jahren wurstelt man sich mit Projektgeldern, Spenden und | |
ehrenamtlichem Engagement durch. Monatlich schießen die 28 MitarbeiterInnen | |
nach eigenen Angaben rund 1.500 Euro aus eigener Tasche zu. Eine | |
langfristige Perspektive erhoffen sie sich durch Gründung einer Stiftung: | |
denn Stiftungen bringen Spendern Vorteile und bekommen leichter | |
Fördergelder. | |
Am Interesse für die Arbeit der Forscher mangelt es jedenfalls nicht. "Es | |
gibt großen Aufklärungsbedarf über die Jugend", sagt Klaus Farin und grinst | |
breit. Der 52-Jährige mit ergrauter Haarmatte und Muskelshirt ist so etwas | |
wie Deutschlands oberster Jugendversteher. Im Gegensatz zu anderen | |
sogenannten Jugendexperten - Soziologen, Kriminologen oder selbst ernannten | |
Trendforschern - bemüht sich Farin um Nähe zu den Jugendlichen, die er | |
erforscht. | |
"Der optimale Jugendforscher war selbst mal Teil einer Jugendkultur, hat | |
aber genug Distanz zur Szene aufgebaut, um von außen draufzuschauen", sagt | |
er. Farin war früher Punk - schon während seiner Schulzeit in Gelsenkirchen | |
grub er sich in die Szene ein und hortete mit Forschungseifer sämtliche | |
Hervorbringungen, von Flyern bis zu selbst gemachten Fanzines. Später kamen | |
andere Jugendkulturen dran, Skinheads, Hooligans, Gothics. Als Farin seine | |
Sammlung einer Universität spenden wollte und auf Desinteresse stieß, | |
beschloss er, ein eigenes Archiv für die flüchtigen Gegenkulturzeugnisse zu | |
eröffnen - in Berlin, dem Treffpunkt für alle möglichen Jugendkulturen. | |
Vielen der 28 zumeist ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sieht man ihre | |
Szenezugehörigkeit an: Irokesen, Dreadlocks, Symbole auf Haut und T-Shirts. | |
Monica Hevelke, die BesucherInnen durchs Archiv führt, trägt dicke | |
HipHopper-Turnschuhe zu bunten Tatoos. Die 28-Jährige stieß über das | |
Breakdancen zum Archiv. Jetzt hält sie Jugendgruppen Vorträge über | |
HipHop-Geschichte und berät Pädagogen beim Erstellen von Kursangeboten. | |
"Ein bisschen Neugier auf andere Szenen muss man mitbringen", sagt sie und | |
zeigt auf das Regal mit den Eigenpublikationen des Archivs: Bücher über | |
Vietnamesinnen in Deutschland, Hausbesetzer in Potsdam, Skinheads. Hevelke | |
hat fast überall mal reingeschaut. Auch ins Schriftgut der rechten Szene, | |
das in einem verschlossenen Schrank lagert und nur für spezifische | |
Forschungszwecke herausgegeben wird. "Ekelhaft", findet Hevelke. Aber: "Man | |
muss doch wissen, worüber man redet - alles andere wäre peinlich." | |
Wissen, worüber man redet - es ist diese Einstellung, die das Archiv der | |
Jugendkulturen so besonders macht. Pauschales Gejammer über Verrohung oder | |
Oberflächlichkeit der Jugend lässt man hier nicht gelten. Besonders Klaus | |
Farin ist jederzeit bereit, für die Jugendlichen Partei zu ergreifen. "Wir | |
haben die bravste Jugendgeneration seit langem", sagt er und liefert | |
aktuelle Entwicklungen gleich mit: Der Alkoholkonsum stagniere, der | |
Tabakkonsum befinde sich auf einem historischen Tiefstand. | |
Auch die Jugendkriminalität sei in fast allen Bundesländern rückläufig. | |
Trotzdem begegne man der Jugend mit Skepsis und Repressionen. "Der Umgang | |
mit Jugendlichen wird immer autoritärer", sagt Farin und berichtet von | |
Baggy-Pant-Verboten in Freibädern. In seinen Worten klingt mit: Das hat die | |
Jugend nicht verdient. | |
Teenager verdienen es, ernst genommen zu werden, das ist das Motto des | |
Jugendarchivs. Ob eine Jugendkultur erst durch die Bravo zum Massenphänomen | |
wurde, wie bei den androgyn auftretenden "Emos", oder ob es wie beim | |
"Parcours" darum geht, über urbane Hindernisse zu hüpfen: Wenn es genug | |
Leute tun und damit öffentliche Aufmerksamkeit erregen, handelt es sich um | |
eine Jugendkultur, die es verdient, erforscht zu werden. | |
Auch wenn die Szenen immer schneller wechseln - die Motive, sich einer | |
Jugendszene anzuschließen, sind seit der Wandervogel-Bewegung im 19. | |
Jahrhundert gleichgeblieben: Freunde finden, sich gegen den langweiligen | |
Rest der Gesellschaft abgrenzen und zusammen etwas Eigenes schaffen. | |
Gemeinsame Rituale, Mode, Sprache und Musik sind der Kitt dieser | |
Gemeinschaften. Dass die heute weniger langlebiger sind als früher - | |
Jugendliche zwischen 13 und 20 wechseln im Schnitt viermal die Szene - tue | |
dem Gebot, sie ernst zu nehmen, keinen Abbruch, sagt Jugendforscher Farin. | |
Neben dem Archivieren ist das Vermitteln Hauptaufgabe der Kreuzberger | |
Einrichtung. Workshops für Schulklassen und Projektgruppen, | |
Wanderausstellungen zu Street Art oder den Lebenswelten von Berliner | |
Einwanderern - die Nachfrage ist groß. Auch von Seiten der Polizei: Der | |
jährliche Graffiti-Workshop für Beamte mit anschließendem Expertenrundgang | |
durch Kreuzberg erfreue sich reger Beliebtheit, erzählt Farin. Lehrer und | |
Politiker holten sich ebenso gern eine Portion Sachverstand, um sich auf | |
dem Laufenden zu fühlen. Der Pluspunkt des Archivs - die aktive Beteiligung | |
Jugendlicher - ist zugleich die offene Flanke der Einrichtung, die seit | |
ihrem Bestehen ums finanzielle Überleben kämpft. | |
Für wissenschaftliche Fördertöpfe sind die Methoden der Jugendforscher zu | |
unorthodox, für die Sozialarbeit zu wenig pädagogikorientiert. Außerdem | |
reden Farin und seine MitstreiterInnen mit allen, ob Skins, Punks, Sprayer | |
oder Hooligans. Das öffentliche Interesse ist aber nicht an allen gleich. | |
Während Geld für MigrantInnenprojekte derzeit leicht aufzutreiben ist, | |
haben es Forschungen im Punkmilieu eher schwer. "Vielleicht sollten wir | |
mehr zu Linksextremismus forschen", sagt Farin sarkastisch und bezieht sich | |
damit auf die derzeitigen Debatten zu autonomer Gewalt und | |
Regierungsprogrammen gegen Linksextreme. | |
HipHop-Expertin Monica Hevelke sieht ihre Forschungstätigkeit eher | |
pragmatisch. Mit einem Zweitjob und viel finanzieller Bescheidenheit kommt | |
die Slawistikstudentin knapp über die Runden. Dafür hat sie gerade | |
Projektmittel für einen Radio-Workshop mit Jugendlichen genehmigt bekommen. | |
"Wie viel Geld man hat, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, was | |
Sinnvolles zu tun", sagt sie. Und verschwindet dorthin, wo sich zwischen | |
den "Mitteilungen der Karl May Gesellschaft", einem Berg aus | |
Schülerzeitungen und Magazinen aus der Technoszene noch jede Menge | |
ungeordnetes Archivmaterial stapelt. Es gibt noch viel zu ordnen im | |
Gedächtnis der Jugendkulturen. | |
15 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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