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# taz.de -- Politische Jugendsünden: Von Bartleby lernen
> Ob SS-Mann, Pädoversteher oder FDJlerin: Wer als junger Mensch gefehlt
> hat, aber weiter mitmischen will, muss sich den Blick zurück gefallen
> lassen.
Bild: Sinnbild einer Generation: die Crème de la Crème der Flakhelfer.
Wer vor Jugendsünden gefeit sein will, der wählt am besten die Depression.
Klassisch wäre der Verweis auf Herman Melvilles Schreiber „Bartleby“, der,
im Lauf der Erzählung sich steigernd, jede ihm angetragene Anstrengung mit
seinem berühmten „Ich möchte lieber nicht“ („I would prefer not to“)
zurückweist. Bartleby geht einsam vor die Hunde – aber das tut er mit
reinem Gewissen.
Seit Freuds Aufsatz „Trauer und Melancholie“ wissen wir allerdings, dass,
wer sich selbst Gewalt antut oder jedenfalls nichts unternimmt, um sich aus
dem Strudel der Selbstzerstörung zu befreien, einen „Mordimpuls gegen
andere auf sich zurückwendet“.
Vielleicht erklärt sich so die manische Austeilerei von Günter Grass, die,
folgt man der Süddeutschen, sich in einem neuen Interviewband gegen
Journalisten wie auch gegen den „schmierigen Verrat“ Oskar Lafontaines
wendet. Der so Beschimpfte hat leichtes Spiel, wenn er anmerkt, dass, wer
seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS verschwiegen habe, „sich zu
Charakterfragen besser nicht mehr äußern“ solle.
Verordnetes Schweigen also, Abtauchen in die Anonymität: Für kommende
Schriftsteller, für Rhetoren, Journalisten, Schauspieler und Kabarettisten
war das schon immer die unmöglichste aller Lösungen – auch nach
ausdrücklicher, durch NSDAP- oder SS-Beitritt vollzogener Zustimmung zur
Endlösung.
## Unausgereiftheit als Entschuldigung
Grass, Martin Walser, Walter Jens, Horst Tappert, Dieter Hildebrandt – die
Crème de la Crème der Flakhelfergeneration, wie sie in einer heuer
erschienenen Studie des Journalisten Malte Herwig seziert wird: Sie
schlossen mit ihrer Jugendsünde ab, indem sie sich wie Tappert als
Melancholiker inszenieren ließen oder die unbekehrten Mit-Nazis
attackierten. Ihre eigene Vergangenheit verschweigend, prangerten sie die
Gesellschaft an, die nicht mal die Energie aufbringen wollte, das Ungeheure
unter den Teppich zu kehren.
Denn wer etwas verschweigt, der tut etwas: Er schämt sich. Aber er will
nicht darüber reden, gewiss auch deswegen, weil er befürchten muss, dass
niemand ihn als Gesprächspartner akzeptieren werde, wenn er den Mund erst
mal aufmacht.
Der Jugendsünder hat dabei die Chance, dass ihm dies nicht widerfährt, wenn
seine Unausgereiftheit als Entschuldigung akzeptiert wird; aber er hat auch
die Angst, dass eben die Jugendsünde als erste, nicht zu löschende, ja
absolut reine, authentische Manifestation seines wahren, unveränderlichen
Ich gelten wird: Wer mit 17 KZ-Wachmann, Pädoversteher, FDJ-Funktionärin
oder einfach nur bescheuert wie Frau Döring von der FDP war – wird der es
nicht mit 37 oder 77 wieder oder immer noch sein können? Oder sogar:
müssen?
## Überall alte Seilschaften
In der Regel aber wird wegen einer Jugendsünde niemand erschossen – und
zwar selbst dann nicht, wenn der Jungsünder einst selbst geschossen hat. Er
muss lediglich damit rechnen, dass seine Worte und Taten auf alte
Seilschaften geprüft werden.
Eben das hat Alice Schwarzer in der taz auf eindrückliche Weise getan, als
sie die Haltung des Parlamentarischen Geschäftsführers der Grünen, Volker
Beck, zur Prostitition heute („ein Beruf wie jeder andere“) mit der von ihm
verfochtenen Entkriminalisierung der Pädosexualität einst [1][in Beziehung
setzte;] und ebenso zulässig haben viele sich bei Günter Grass’ Gedicht
„Was gesagt werden muss“ die Frage gestellt, ob die Tatsache, dass in dem
Text von Israels „Erstschlag“ die Rede ist und der jüdische Staat als
„Verursacher der erkennbaren Gefahr“ bezeichnet wird, nicht ältere
Prägungen der Grass’schen Persönlichkeit durchschimmern.
Damit muss leben, wer freiwillig und mit dem Anspruch, es besser zu wissen,
sich öffentlich einmischt: Bartleby wusste schon, was er nicht tat.
13 Aug 2013
## LINKS
[1] /Paedophiliedebatte-in-den-1980ern/!121701/
## AUTOREN
Ambros Waibel
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