# taz.de -- Kolumne Blicke: Nackte beim Spaßappell | |
> Die Menschen im Lande sind glücklich wie nie – ob in der größten Therme | |
> Europas oder auf dem größten Volksfest der Welt. Die entsprechende Phrase | |
> gibt es auch. | |
Bild: Wies'n-Vergnügen - kein Vergleich zur Sperme Erding. | |
In der Therme Erding – im Volksmund auch Sperme Erding genannt – ruhen die | |
Menschen in flauschige Bademäntel gehüllt auf Plastikliegestühlen. Sie | |
lesen Zeitschriften und Arbeitsunterlagen oder sie haben sich einen Sound | |
auf die Ohren gelegt. Sie schauen durch Panoramascheiben in den Regen | |
hinaus, auf die gerade laufende Erweiterungsbaustelle oder den | |
Wohnmobilpark. Es ist Samstagnachmittag, und es ist übervoll. | |
Die Kinder sind vollkommen begeistert von der „Rutschenwelt Galaxy“, ich | |
leide an Platzangst und habe mich dennoch überwunden, ein paar Röhren | |
hinunterzufahren. Nun stehe ich mit meinem nachfamilienfestlichen Kater im | |
größten Thermalbad Europas und schaue zu, wie der kleinste Sohn immer | |
wieder - und immer wieder anders – die Doppelwelle rutscht. | |
Natürlich fällt mir das Adorno’sche „Fun ist ein Stahlbad“ beziehungswe… | |
das feuilletonistische „Fun ist ein Spaßbad“ ein. Ich denke darüber nach, | |
ob ich darüber nachdenken müsste, warum ich es hier so schrecklich finde. | |
Aber dann denke ich, nein, in einem Ambiente, das über sich noch nie | |
nachgedacht hat, muss jetzt nicht ausgerechnet ich damit anfangen – am Ende | |
wird es mir als Arroganz ausgelegt. | |
Ich denke, während die nackten Massen sich an mir vorbeischieben, an meine | |
Italienischdozentin in Marburg/Lahn, die einst vor das Fenster ihres | |
hübschen Fachwerkhauses einen Saunaauslauf gesetzt bekam. Die anfangs | |
schüttere Bepflanzung gab den Blick auf die wandelnden Nackten frei, und | |
meine neapolitanische Italienischdozentin sagte, sie könne nicht anders: | |
sie müsse da immer an ein KZ denken. | |
Und ich muss in der Therme Erding auch an ein KZ denken, wo die Nackten zum | |
Spaßappell getrieben werden, und das ist gewiss völlig unangebracht, so wie | |
KZ-Vergleiche ja immer unangebracht sind, schon deswegen, weil eine | |
KZ-Gedenkstätte keine 100 Euro Eintritt für zwei Erwachsene und zwei Kinder | |
für zwei Stunden kostet. | |
## Latexlederhosenbodys | |
Also denke ich erst an Lampedusa und dann an die Phrase, die mich auf | |
dieser Reise in das echte Deutschland begleitet hat, in das schöne, reiche | |
Bayern-Deutschland, wo alle Menschen in Europa leben wollen, außer Jürgen | |
Trittin und ein paar anderen Spinnern. Die Phrase heißt „Alles gut“. | |
Es ist eine weibliche Phrase, man hört sie im ICE, im Supermarkt und vom | |
Liegestuhl über die Labellolippen von blassen Blondinen kullern; es ist | |
eine therapeutische Chefsekretärinnenphrase, die den anderen das Leben | |
leichter machen und gleichzeitig jeder öffentlichen Erregung die Grundlage | |
entziehen will. | |
Und dann stehe ich plötzlich auf dem Oktoberfest, es ist Nachmittag und | |
noch harmlos, und in ein Zelt kommt man trotzdem nicht mehr hinein, beim | |
größten Volksfest der Welt; und wieder haben die Kinder ihren Spaß, der | |
Trachtenwahnsinn um einen herum ist noch deutlich wahnsinniger als man es | |
sich nach fast 20-jähriger Wiesnabstinenz hat ausmalen mögen. Es gibt sogar | |
Latex-Lederhosenbodys. Und ich denke, dass mich jetzt bitte jemand anrufen | |
darf, eine mütterliche Blondine zum Beispiel, die mir ins Ohr flüstert: | |
„Alles gut“. | |
11 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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