| # taz.de -- Die Wahrheit: Das Bermudatrinkeck | |
| > Schwabinger Krawall Spezial: Ein Dreieck aus Kneipen verschluckt immer | |
| > mehr Menschen. Selbst ein Ausbruchsversuch durchs Klofenster scheitert. | |
| Bild: Den Eingeschlossenen des Wurmlochs bleibt nur eines: abwarten und weitert… | |
| Konrad U. steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben: „Ich hab’s | |
| wirklich versucht“, sagt er, „aber es geht nicht. Es geht einfach nicht.“ | |
| Gemeint ist: nach Hause gehen. | |
| Es ist das wohl gravierendste der merkwürdigen Phänomene, die im | |
| traditionell als „Bermudadreieck“ bezeichneten Altschwabinger Areal | |
| zwischen Fend-, Ursula- und Leopoldstraße auftreten, seit dort vor knapp | |
| einem Jahr eine unter der Kneipe „Schwabinger Sieben“ gefundene | |
| Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg explodierte: Seither irren verwirrte | |
| Gestalten durch die diversen Schanklokale der Gegend, verabschieden sich | |
| immer mal wieder, um ihre Wohnung aufzusuchen, kommen dort jedoch nie an, | |
| sondern tauchen umgehend am nächsten Tresen wieder auf. | |
| Eine Tragödie nicht nur für Konrad U., der seine Familie seit Monaten nicht | |
| mehr gesehen hat. „Ich weiß gar nicht mehr, wie die aussehen“, sagt er. | |
| „Das kann natürlich auch daran liegen, dass man Tag und Nacht Bier trinken | |
| muss.“ An seinen letzten gezielten Ausbruchsversuch hingegen kann er sich | |
| noch erinnern: Vor vier Wochen versuchte er vergeblich, dem „Vereinsheim“ | |
| durchs Klofenster zu entkommen. „Das war echt seltsam. Als ich draußen war, | |
| war ich im nächsten Moment schon wieder drin.“ In der „Rennbahn“ nämlic… | |
| am Tresen, mit einem vollen Bier vor sich. Die Momente dazwischen sind aus | |
| seinem Gedächtnis gelöscht. | |
| Ein Muster ist in den Vorgängen nicht zu erkennen. Man landet mal hier, mal | |
| da – in der neuen „Sieben“, der „Hopfendolde“, dem „Fendstüberl“, | |
| „Barschwein“, „Cannone“ oder, wenn es ganz schlimm kommt, dem „Albatr… | |
| Inzwischen untersuchen Physiker der Technischen Universität das Phänomen. | |
| „Wir vermuten, dass durch die Wucht der Explosion eine Reihe kleiner | |
| Dimensionsspalten entstanden sind und die Betroffenen bei jedem | |
| Fluchtversuch sozusagen durch ein Wurmloch wieder dort landen, wo sie | |
| hergekommen sind“, erklärt Dr. Hans P. von der Fakultät für Kernphysik. | |
| „Dabei kommt es zu geringfügigen Ortsverschiebungen, weil das Kontinuum | |
| offenbar wabert.“ | |
| ## Physiker in Dimensionsspalte verschollen | |
| Im Grunde, meint der Fachmann, gehe damit ein alter Traum der Astronomie | |
| und der Science-Fiction in Erfüllung. Seit Einstein und Rosen 1935 ihre | |
| Brückentheorie veröffentlichten, gibt es Denkmodelle, die die Möglichkeit | |
| von Raumfahrten über riesige Entfernungen ohne Zeitaufwand postulieren. | |
| „Aber“, sagt Dr. P., „bislang gab es dafür keinen Beleg.“ Nun gibt es | |
| möglicherweise einen, aber der praktische Nutzen ist gering: „Es hilft uns | |
| ja nichts, ein Raumschiff von der Occamstraße zur Münchner Freiheit zu | |
| schicken.“ | |
| Zudem stockt die Erforschung, seit sich die TU-Physiker vor Ort begeben | |
| haben, um die Sache aus nächster Nähe zu untersuchen – denn auch sie sind | |
| dadurch zu Gefangenen der „Schwabinger Singularität“ geworden. „Wir komm… | |
| nicht an unsere Computer und Geräte heran“, klagt P.s Kollege, der | |
| Astrophysiker Jochen W. Die nämlich stehen in Garching, nur zehn | |
| U-Bahn-Stationen entfernt und dennoch unerreichbar. Berichte sprechen von | |
| weiteren Begleiterscheinungen des Dimensionsrisses. | |
| So wirken sich die Dimensionsspältchen anscheinend auch auf den Bartwuchs | |
| und den allgemeinen Geisteszustand der Betroffenen aus, was sich in einer | |
| Vielzahl künstlerischer und kabarettistischer Veranstaltungen | |
| niederschlägt: „Das ist nur noch krass, was die hier machen“, sagt der vor | |
| Monaten für einen Wochenendausflug nach Schwabing angereiste Detlef L. aus | |
| Osnabrück, der seitdem infolge einer besonders eigentümlichen Fügung von | |
| Dimensionsübergängen zwischen „Lustspielhaus“, „Lach- und | |
| Schießgesellschaft“ und „Vereinsheim“ pendelt und sich einer Dauertraktur | |
| mit abseitigem Witz unterzogen sieht. „Ich bin schon froh, wenn ich | |
| zwischendurch mal in der Galerie Truk Tschechtarow lande“, sagt er, „weil | |
| ich da notfalls wegschauen kann.“ | |
| Inzwischen hat sich eine Selbsthilfegruppe der Dimensionsspaltgeschädigten | |
| gegründet, die Wissenschaftler weltweit um Hilfe bittet. „Was wir brauchen, | |
| wäre eine Formel, um die Spalten zumindest zeitweise zu schließen“, sagt | |
| Dr. Hans P. „Möglicherweise könnte eine zweite Bombe helfen, aber die | |
| müssten wir erst mal finden.“ | |
| Das ist momentan ziemlich aussichtslos, da die Gentrifizierung des Viertels | |
| aufgrund der unklaren Lage stockt und der Abriss weiterer Denkmäler daher | |
| nicht zu erwarten ist. Eindringlich warnt die Initiative vor | |
| Katastrophentourismus: „Das wäre höchst gefährlich. Wer einmal drin ist, | |
| kommt nicht mehr raus.“ So bleibt den Eingeschlossenen des Altschwabinger | |
| Wurmlochnetzes vorläufig wohl nur eines: abwarten und weitertrinken. | |
| 22 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Sailer | |
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