# taz.de -- Die Wahrheit: Reisen wider besseres Wissen | |
> Reisen hasste und fürchtete Rotter, weil ihm die Welt ein Gräuel war. | |
> Denn „wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“. | |
Bild: Den Eingeschlossenen des Wurmlochs bleibt nur eines: abwarten und weitert… | |
Rotter, dank einer beträchtlichen Erbschaft finanziell abgesichert und | |
infolgedessen eigentlich in der Lage, ein sorgenfreies, zufriedenes Leben | |
zu führen, empfand stattdessen großen Überdruss. Er hatte das Gefühl, mit | |
allem durch zu sein, und huldigte der Überzeugung: „Es ist alles Quatsch, | |
totaler Quatsch.“ Und damit meinte er in der Tat buchstäblich und | |
ausnahmslos alles. Infolgedessen interessierte er sich für nichts und tat | |
auch nichts. | |
Wohlmeinende Menschen, darunter auch sein Psychotherapeut, vertraten die | |
Ansicht, Rotter müsse sein Leben von Grund auf ändern. Im Grunde lebe er ja | |
gar nicht wirklich. Was ihm fehle, seien neue Eindrücke, Aktivität, Umgang | |
mit Menschen, körperliche Bewegung. Um leben zu können, brauche er | |
„Grenzerfahrungen“. Das einfachste, probateste Mittel sei in so einem Fall | |
eine Reise. | |
Reisen jedoch hasste und fürchtete Rotter, weil ihm die Welt ein Gräuel | |
war. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, erwiderte er deshalb, | |
ließ auch das Thema „Reisepsychosen“ nicht unerwähnt. Sein Therapeut | |
insistierte dennoch: „Verreisen Sie, schließlich können Sie sich das doch | |
leisten. Fahren Sie möglichst weit weg, irgendwohin, wo Ihnen alles fremd | |
ist. Lassen Sie sich überraschen, seien Sie ganz offen für alles. Es ist | |
auch vollkommen gleichgültig, wohin Sie fahren, Sie werden dank der | |
Synchronizität geradezu automatisch finden, was Ihnen entspricht.“ | |
Weil Rotter seinen Überdruss nicht mehr ertrug, beschloss er, notgedrungen | |
und gegen seine Überzeugung zu versuchen, was der Therapeut ihm riet. Er | |
packte, bestimmte aleatorisch irgendeinen Zielort, kaufte sich eine | |
Fahrkarte und setzte sich in den Zug. Nach ein paar Stunden schlief er ein. | |
Er erwachte, weil jemand an seinem Oberarm rüttelte und wiederholt „Hallo“ | |
rief. Schlaftrunken meldete Rotter sich mit Namen. Allmählich dämmerte ihm, | |
dass er in einem Zug saß und dass die Schaffnerin ihm etwas mitteilen | |
wollte. | |
„Die Fahrt endet hier“, sagte die uniformierte Frau, „es geht nicht weite… | |
Sie müssen aussteigen.“ Auf die Frage, was denn der Grund sei, bekam er | |
keine Antwort. Es hieß nur, er solle sich mit dem Aussteigen beeilen. | |
Typisch, dachte Rotter, das habe ich nun davon. Reisen ist Quatsch, totaler | |
Quatsch. Gewohnt, immerfort zu irgendetwas genötigt zu werden, nahm er | |
seine Reisetasche und stieg aus. Anscheinend war er der einzige Fahrgast, | |
außer ihm befanden sich nur die Schaffnerin und ein männlicher Kollege von | |
ihr draußen. Nun kam auch der Lokführer dazu. Die drei redeten aufgeregt | |
von der übergroßen Schädlichkeit der Landschaft, in der man sich gerade | |
befand. Soviel Rotter verstand, lehnte sich die Landschaft besonders gegen | |
alles zur Bahn Gehörige auf und trachtete, es zu vernichten. Die | |
Bahnbediensteten mussten daher zu Fuß aus der Gegend fliehen. Im Laufen | |
rief die Schaffnerin Rotter zu: „Schlagen Sie sich zur nächsten Blockstelle | |
durch!“ | |
Der Zug korrodierte und fiel in sich zusammen. Ärgerlich dachte Rotter: Mit | |
Reisen bin ich jetzt aber endgültig durch. | |
22 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
## TAGS | |
Reisen | |
Reisen | |
Pianist | |
Bahn | |
Groteske | |
Saufen | |
Katzen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Wie es mit Brahms begann | |
Aus einem der Kellerräume war leise Klaviermusik zu hören, die immer | |
gleiche Stelle eines Stücks, einer Sonate von Brahms, wurde wiederholt ... | |
Die Wahrheit: Der fatale Bungalow | |
Schon bald nach meiner Ankunft lernte ich einen anderen Hotelgast kennen, | |
den Bahningenieur Fleissner. Wir kamen beim Abendessen ins Gespräch ... | |
Die Wahrheit: In der bösartigen Landschaft | |
Kurz vor meinem Ziel hielt der Zug auf freier Strecke. Die Reisenden wurden | |
über Lautsprecher informiert, es gehe nicht weiter. | |
Die Wahrheit: Das Bermudatrinkeck | |
Schwabinger Krawall Spezial: Ein Dreieck aus Kneipen verschluckt immer mehr | |
Menschen. Selbst ein Ausbruchsversuch durchs Klofenster scheitert. | |
Die Wahrheit: Auf dem Flugfeld | |
Wind aus Nordost war zu hören und entferntes Bellen eines Hundes. Ich | |
staunte beim Anblick des alten, trümmerübersäten Flugfelds. | |
Die Wahrheit: Katzendämonen und Geisterzüge | |
Ich weiß noch, dass wir abends im Parterre auf die verstorbenen Katzen in | |
unserem Leben tranken und zwar so sehr, dass eine davon wiederkehrte. |