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# taz.de -- Wahlergebnis als Selbstentmachtung: Demokratie ist kein zu weites F…
> Hinter der Fassade einer boomenden Wirtschaft erodiert die politische
> Kultur dieses Landes. Deswegen müssen die Bürger mehr Konflikte wagen.
Bild: Kein Bock auf Konflikt: Eine „Mutti“ kann es nicht ohne Kinder geben,…
Diese Wahl katapultiert uns an einen Ort, der jenseits einer
selbstbewussten und streitlustigen Gesellschaft liegt, an einen Ort, an dem
eine Regierung ihre Politik nicht mehr erklären und mehrheitsfähig machen
muss. Denn es fehlt ihr ein Gegenüber: das Volk, das prüft, bewertet,
protestiert.
Es ist, als führe uns Angela Merkel in einen Roman von Theodor Fontane,
erschienen 1896, und damit in die preußisch-protestantische Welt der „Effi
Briest“: Dort der Garten des Herrenhauses zu Hohen-Cremmen in Brandenburg,
die mittagsstille Dorfstraße, die Kirchhofsmauer, die im Efeu steht. Da
Effi Briest, eine junge Frau, die sich wehrlos und ohnmächtig von den
gesellschaftlichen Gegebenheiten in den Tod treiben lässt, verheiratet mit
einem Baron, der auf der anderen Seite, der Seite der Macht, steht und als
preußischer Bürokrat Karriere machen will.
Und im Garten sitzend Effi Briests Vater, der bei allen Fragen nach
Verantwortung, nach Handlungsspielräumen, nach der Macht des Einzelnen im
politisch-gesellschaftlich Ganzen, selbst nach dem Tod seiner Tochter,
abwehrend sagt: „Das ist ein zu weites Feld.“
Es ist dieser Satz, den die Deutschen mit der Wahl Angelas Merkels zu ihrem
Mantra gemacht haben, er beschreibt die politische Gemütslage des Landes,
unsere Haltung zu den Problemen der Zeit. Eurokrise, Reichtum, Armut,
Klimawandel, Terrorismus, Krieg: Es ist ein zu weites Feld.
## Das Prinzip Merkel
Auf der einen Seite ist das Prinzip Merkel: eine Kanzlerin, die ihre Macht
daraus gewinnt, den Bürgern das andauernde Gefühl zu geben, sie kümmere
sich schon – und lasse den Bürger mit Politik in Frieden. Wie auch sie
wünscht, beim Politikmachen in Frieden gelassen zu werden.
Wer diese Art des Regierens zu einer Stilfrage erklärt, zu einer
nebensächlichen Frage der Rhetorik, der verharmlost die Gefahr:
Kommunikation ist der Sauerstoff der Demokratie. Und wer Politik macht,
ohne zu kommunizieren, der nimmt der Demokratie, fahrlässig oder
willentlich, die Luft.
Auf der anderen Seite sind wir, im Garten sitzend wie Vater Briest, die wir
uns die Atemluft nehmen lassen. Wir lassen es geschehen. Mehr noch: Wir
belohnen Merkels sprachlose Politik. Ihre Wiederwahl ist ein Akt
bürgerlicher Selbstentmachtung, für den weniger Merkel verantwortlich ist
als der Bürger selbst. Denn er hat es ja so gewollt: Eine „Mutti“ kann es
nicht ohne Kinder geben, die sich bemuttern lassen. Offenbar will sich
niemand gegen die Infantilisierung der Demokratie wehren, denn sie
verspricht weniger Verantwortung und mehr Komfort.
Wir haben damit nicht nur Merkel gewählt, sondern auch eine Rolle für uns:
die des modernen Untertanen. Aus einem stillen Übereinkommen, Merkel machen
zu lassen, wurde bei dieser Wahl gleichsam ein Vertrag.
Zum Prinzip Merkel gehört es, die Probleme, die zu bewältigen sind, als
besonders, historisch und einmalig darzustellen – und damit zur Sache der
Experten zu erklären. Zu einem weiten Feld.
## Es geht ja alles so schnell
Als sei die Regierung die Crew eines untergehenden Kreuzfahrtschiffs, die
im Angesicht der außergewöhnlichen Bedrohung erst alle Notfallmaßnahmen
einleiten müsse, bevor sie die Passagiere über die Lage informieren kann.
Wenn die Lage nicht dann schon zu bedrohlich ist, um Durchsagen zu machen.
Es geht ja alles so schnell.
So ist es etwa in der Eurokrise. Tatsächlich ist diese Krise
einschüchternd: in ihrer Komplexität und Geschwindigkeit. Die Kapitulation
der Bürger und deren Rückzug angesichts eines Problems, vor dem selbst
Experten kapitulieren, ist verständlich. Und so dringt auch keine
gesellschaftliche Debatte über die richtige Europa-Politik durch,
stattdessen gibt es nur politische Entscheidungen, die verkündet werden.
Doch waren die großen Probleme, vor denen die Bundesrepublik stand, nicht
immer besonders, historisch und einmalig? Und gab es nicht trotzdem immer
wieder den Versuch der Politik, das Problem zu erklären und für dessen
Lösung Mehrheiten in der Gesellschaft zu erkämpfen?
Als Deutschland nach dem Krieg am Boden lag und wiederaufgebaut werden
musste, entwarf Ludwig Ehrhard die Idee einer sozialen Marktwirtschaft. Das
ging nur mit den Bürgern und Bürgerinnen, nicht gegen sie. Er musste
erklären, warum er das wollte.
Und als Deutschland geteilt war, als sich in Berlin Panzer
gegenüberstanden, ging es bei vielen politischen Entscheidungen gar um
Leben und Tod, Krieg und Frieden.
## Erosion der politischen Kultur
Und trotzdem entwickelte Willy Brandt als Bundeskanzler eine politische
Idee, wie mit der Bedrohung umzugehen ist: die Ostpolitik. Eine Idee, die
er erklärte und kommunizierte.
Wann, wenn nicht in Zeiten der Krise, braucht Politik Ideen? Wann, wenn
nicht im Fall einer Havarie, muss ein Kapitän mit den Passagieren sprechen?
Deutschland geht es gut – auf den ersten Blick. Doch hinter der Fassade
einer boomenden Wirtschaft, hinter dem Bild des europäischen Klassenprimus,
erodiert die politische Kultur dieses Landes.
Die Akzeptanz der Politik schwindet, die Parteien verlieren Mitglieder, bis
tief ins bürgerliche Milieu hinein macht sich Verachtung für
Berufspolitiker breit. Intellektuelle propagieren Nichtwählen als Akt
bürgerlicher Notwehr. Aus dem Stand erreicht eine
chauvinistisch-rechtspopulistische Partei fast den Einzug in den Bundestag.
Und jetzt?
Das weite Feld bleibt ein weites – doch dass es zu weit ist, sollten wir
uns nicht erzählen lassen. Wir müssen mehr Konflikte wagen. Wir müssen
Fragen nach Macht, Ursache und Wirkung stellen.
Bei Fontane zerbricht Effi Briest an einer Ehe, die sie nicht wollte, an
einem Duell zwischen Liebhaber und Ehemann, das die Gesellschaft forderte.
Sie lebte verstoßen von Mann und Familie, bis ihre Eltern sie aufnehmen. Da
ist sie bereits todkrank und fügt sich ihrem Schicksal, verglommen der
letzte Funke von Aufbegehren, von Rebellion.
Ist es das, was wir wollen?
Effi Briest übernimmt die Verantwortung für ihr Leid – obwohl es doch die
Gesellschaft und die Zwänge waren, die sie in den Tod trieben. Sie sagt mit
letzter Kraft: „Ich sterbe mit Gott und Menschen versöhnt.“ Und als sie
dann stirbt, sagt sie zwei letzte Wörter: „Ruhe, Ruhe.“
## Die gefährliche Ruhe
Das Problem, das diese Wahl so deutlich gemacht hat, ist doch nicht, dass
keine Wechselstimmung herrscht. Das Problem ist, dass überhaupt keine
Stimmung herrscht. Es dominiert Spannungslosigkeit – ein
politisch-gesellschaftliches Vakuum, das zu implodieren droht. Was nutzt
eine blühende Wirtschaft, wenn gleichzeitig die Demokratie verdorrt?
Bezeichnend dabei, dass sich eine Mehrheit der Deutschen jetzt auch noch
eine Große Koalition wünscht, als sei eine stabile Regierungsmehrheit
wichtiger als eine starke Opposition, als gelte es jene letzten Konflikte
aufzulösen, die noch imstande sind, den demokratischen Wettbewerb zu
vitalisieren: Nicht nur die Bürger und Bürgerinnen sollen Merkel in Ruhe
lassen, auch die Opposition.
Bei Fontane endet das so:
„Es war einen Monat später, und der September ging auf die Neige. Das
Wetter war schön, aber das Laub im Parke zeigte schon viel Rot und Gelb,
und seit den Äquinoktien, die drei Sturmtage gebracht hatten, lagen die
Blätter überallhin ausgestreut. Auf dem Rondell hatte sich eine kleine
Veränderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie
gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand
nichts als ’Effi Briest‘ und darunter ein Kreuz.“
30 Sep 2013
## AUTOREN
Felix Dachsel
## TAGS
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