# taz.de -- Biografie über Diktator: Hitler, Stand 2013 | |
> Das Interesse an Hitler ist ungebrochen. Volker Ullrichs Biografie über | |
> seinen Aufstieg ist ein Buch über die Jahrzehnte deutscher Geschichte bis | |
> 1939. | |
Bild: Hitler ist immer noch ein präsent, hier bei einer Werbung für thailänd… | |
Noch ein Buch über Adolf Hitler? Rund 200.000 schriftliche Werke existieren | |
über den größten Massenmörder der Geschichte. Ist es damit nicht genug? Ist | |
nicht jede Verästelung, jedes noch so kleinste Detail längst ausführlichst | |
beschrieben, analysiert und bewertet? | |
Volker Ullrich, der langjährige Mitarbeiter der Zeit, Historiker und | |
Publizist, stellt zu Beginn seines Buchs selbst diese Frage, und er | |
beantwortet sie überzeugend. Zum einen ist Hitler, anders als von vielen | |
Historikern erwartet, in der Öffentlichkeit so präsent wie kaum zuvor. | |
Unzählige Einträge über den Diktator finden sich bei der Suchmaschine | |
Google, und dabei beschränkt sich das Interesse keineswegs auf die | |
Wissenschaft – im Gegenteil. Die Zahl der – wenigen – geglückten, mehr n… | |
der abseitigen Glossen, Blogs und anderer Scherzartikel weist steil nach | |
oben. Das Phänomen Hitler ist in. Deutschland, Europa, die Welt wird diesen | |
Mann nicht mehr los. | |
Zum anderen verweist Ullrich darauf, dass seit dem wegweisenden Werk von | |
Ian Kershaw fast 15 Jahre vergangen sind und die wissenschaftliche | |
Auseinandersetzung seitdem selbstverständlich nicht stehen geblieben ist. | |
Eine neue Hitler-Biografie erscheint also in der Tat fällig, und Ullrich | |
legt schon im Vorwort die Latte für sein Werk hoch, stellt er sein Buch | |
doch in eine Linie mit Heidens Biografie aus den 1930er Jahren, Fests | |
„Hitler“ aus den 1970ern und Kershaws Biografie. Im Gegensatz zu Letzterem | |
stellt aber Ullrich die Persönlichkeit Adolf Hitlers in den Mittelpunkt | |
seines Buchs. Ein Hitler für Voyeure also? | |
## Beträchtliches Rednertalent | |
Das nun eher nicht – auch wenn für die Gaffer durchaus etwas abfällt, aber | |
dazu später. Anders als Kershaw stellt Volker Ullrich den Diktator weniger | |
als Ausgeburt missglückter deutscher und österreichischer Geschichte und | |
reaktionären, antisemitischen und nationalistischen Denkens vor. | |
Er billigt dem Mann ein beträchtliches eigenes Können zu: Neben seinem | |
unbestrittenen Rednertalent, das uns heute bei Klangproben bizarr | |
erscheinen mag, diagnostiziert Ullrich Hitlers schauspielerische | |
Fähigkeiten, seinen unbedingten Willen zur Macht und seine taktische | |
Schläue. | |
Der Mann konnte nicht nur große Massen, sondern auch in exklusiven Zirkeln | |
überzeugen. Er war berechnend und bisweilen charmant. All diese | |
Charaktereigenschaften waren es, die es ihm ermöglichten, von der mehr als | |
zweifelhaften Existenz in einem Wiener Obdachlosenasyl zum Staatsmann zu | |
werden. | |
Hitler war eben nicht einfach nur eine Marionette an den Fäden von | |
Militaristen und Großindustriellen, auch wenn diese ihn ab Ende der 1920er | |
Jahre mehr und mehr zu unterstützen begannen. Sowenig der | |
Nationalsozialismus in Deutschland zwangsläufig an die Macht kommen musste, | |
so wenig lässt sich dessen Ideologie und Praxis ohne ihren unumstrittenen | |
Führer – ganz ohne Anführungszeichen – erklären. | |
Insofern besteht in der Tat auch heute völlig zu Recht ein großes Interesse | |
an der Person Hitlers. Dieses Interesse speist sich nicht nur an der | |
Faszination eines Verbrechers – es dient schlicht der Aufklärung, warum die | |
Geschichte so und nicht anders verlaufen ist. | |
Nun folgt Volker Ullrich zwar auf über 1.000 Seiten chronologisch dem | |
Lebensweg Adolf Hitlers von seiner Geburt im Jahre 1889 bis zum Beginn des | |
Zweiten Weltkriegs, er bleibt aber nicht an seiner Person kleben. Das Buch | |
ist ein in großen Teilen glänzend gelungener Versuch, deutsche Geschichte | |
und die Biografie Hitlers miteinander zu verknüpfen. | |
## Der gescheiterte Kunstmaler | |
Das beginnt bei Hitlers persönlichem Tiefpunkt zwischen 1908 bis 1913 in | |
Wien. Selbstverständlich steht die Figur des gescheiterten Kunstmalers im | |
Mittelpunkt, doch erfährt der Leser so einiges über die Umstände dieses | |
Scheiterns und über das Leben in der österreichischen Hauptstadt. | |
Freilich kann auch Ullrich das Rätsel um Zeitpunkt und Ursache von Hitlers | |
Zuwendung zum Antisemitismus so wenig aufklären wie seine biografischen | |
Vorgänger. Geschah es im Wiener Nachtasyl, wie Hitler selbst im Nachhinein | |
behauptete, oder in den furchtbaren Kämpfen von Flandern im Ersten | |
Weltkrieg, wo er als Gefreiter eingesetzt war, oder doch erst während oder | |
kurz nach der missglückten Räte-Revolution 1919 in München? | |
Ullrich neigt zu Letzterem und hat dazu neue Quellen aufgetan, aber auch er | |
muss implizit zugestehen, dass wir über Hitlers Wiener Jahre und seinen | |
Einsatz im Ersten Weltkrieg schlicht zu wenige Informationen besitzen, um | |
ein wirklich sicheres Urteil bilden zu können. | |
Man mag einwenden, dass diese Frage angesichts der Durchsetzung des | |
Rasse-Antisemitismus zur Staatsdoktrin ab 1933 eher marginal anmutet. Doch | |
tatsächlich geht es auch darum, feststellen zu wollen, weshalb und unter | |
welchen Umständen Hitler – und Millionen andere Deutsche und Österreicher �… | |
eine irrationale Ideologie adaptierten, die bis zum Massenmord führte. | |
Unglücklicherweise ist die Frage auch heute noch aktuell. | |
Volker Ullrich ist es gelungen, nicht nur ein Buch über Hitler, sondern | |
über die Geschichte Deutschlands in den ersten Jahrzehnten des 20. | |
Jahrhunderts vorzulegen. Die Handlungen des „Führers“ werden nicht isoliert | |
betrachtet, Zusammenhänge werden dargestellt und die Interessen der | |
politisch Handelnden erklärt. | |
Die Gewichtung Ullrichs über die politischen Vorgänge in den Jahren der | |
NS-Herrschaft bleibt dabei freilich fast zwangsläufig strittig. Viel Raum | |
erhält dabei etwa die von den Nazis als „Röhm-Putsch“ bezeichnete | |
Niederschlagung und Ermordung der Spitzen der SA im Jahre 1934. | |
## Übergroße Nase, kalt glänzende Augen | |
Mehr Konsistenz hätte man sich bei der Untersuchung der Frage gewünscht, ob | |
und, wenn ja, in welcher Weise die Schritte antisemitischer Verfolgung der | |
Juden aufeinander aufbauten und damit zwangsläufig zu einer Radikalisierung | |
führten, die in der Ermordung von sechs Millionen Menschen ab 1941 | |
gipfelte. | |
Auch Ullrich ist nicht davor gefeit, dem Objekt seiner Begierde bisweilen | |
zu sehr in dessen Gehirnwindungen folgen zu wollen. Das geschieht immer | |
dann, wenn sich der Autor bemüht, der Persönlichkeit Hitlers näher zu | |
treten, als dies die historischen Quellen hergeben. | |
Das beginnt bei der Frage nach den sexuellen Erlebnissen des jungen Hitler | |
in Wien – das Ergebnis lässt sich in vielen „vielleicht“, „sollte sich… | |
„kann nur spekuliert werden“ bis zu „womöglich“ zusammenfassen. Wer im | |
Kapitel „Hitler und die Frauen“ Neuigkeiten erwartet, wird gleich zu Beginn | |
darüber belehrt, dass „diese Frage nur sehr schwer und wahrscheinlich | |
niemals zu beantworten“ ist. | |
Wozu also diese Seiten? Und schließlich erscheint es mehr als fraglich, ob | |
wirklich neue Erkenntnisse dadurch zu gewinnen sind, wenn auf Hitlers | |
„übergroße, fleischige“ Nase, seine mal gütigen, mal fanatisch kalt | |
glänzenden Augen oder seine angeblich femininen Hände eingegangen wird. | |
Diese Petitessen sind nicht nur überflüssig – sie scheinen auch Ausfluss | |
der Herangehensweise des Autors an die Person Hitler. Weil Ullrich dessen | |
Persönlichkeit in den Mittelpunkt seines Interesses stellt, werden für ihn | |
Dinge wichtig, die für eine Einordnung des Handelns von Adolf Hitler von | |
nicht allzu großer Bedeutung sind. Nein, das Bild Adolf Hitlers muss | |
deshalb nicht neu belichtet werden. | |
17 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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