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# taz.de -- Armin Petras am Staatstheater Stuttgart: Nebenbei geht die Welt unt…
> Gleich mit sechs Premieren startete Armin Petras in seine erste Spielzeit
> am Stuttgarter Staatstheater. Atemlos? Reflektiert!
Bild: Szene aus „Die Reise“ nach dem Roman von ernward Vesper mit Paul Schr…
Wenn ein Intendant zu Beginn einer neuen Spielzeit das Ziel formuliert, ein
breiteres Publikum ansprechen zu wollen, macht das in der Regel so viel
Eindruck, wie wenn Politiker Steuersenkungen versprechen. Nämlich gar
keinen.
Umso größer ist die Überraschung, wenn das scheinbar Unmögliche dann doch
in Ansätzen einzutreten scheint. Sechs Stücke feierten am Wochenende
Premiere bei der Eröffnung der neuen Spielzeit des Stuttgarter Schauspiels
unter der Intendanz von Armin Petras. Trotz der Unterschiedlichkeit der
Inszenierungen bleibt der Eindruck, dass es ein zentrales Thema gibt, das
auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt wird.
„Kunst ist erst einmal nichts außer Reflexion über die Gesellschaft, über
unser Leben, deren Abbild in konzentrierter Form“, schreibt Petras und
dieser Aussage bleibt die Auswahl der Stücke treu. Sie bilden eine
Reflexion über die unterschiedlichen Ängste und Konflikte unserer
Gesellschaft mit dem Ergebnis, dass Angst, so unterschiedlich ihr Ursprung
auch sein mag, letztendlich Angst bleibt.
Da wäre zum Beispiel die schminkeverschmierte junge Missy in Unterwäsche in
der Uraufführung „5 morgen“, von Petras Autoren-Alter-Ego Fritz Kater
geschrieben und von ihm selbst inszeniert. Verfeiert und verbittert rotzt
das eben noch wasserstoffblonde Püppchen: „Ich werde nächstes Jahr
fünfundzwanzig, ich bin eine Niete.“
## Der perfekte Körper muss es ssein
Hübsche, normale Körper interessieren sie nicht, es muss der perfekte
Körper unterhalb der 50-Kilo-Grenze sein. Das gilt erst recht, weil der
Erfolg in der Abschlussprüfung des Studiums ausgeblieben ist und ein Virus
das Fortleben der Menschheit bedroht.
„Dass ich nicht weiß, wer ich bin, wenn ich verheimliche, was ich dachte.
Dass ich mein Leben lang versucht habe zu gefallen, dass ich dachte, was
will der andere, was ich jetzt wollen soll?“ monologisiert mehr enttäuscht
als wütend Marianne in „Szenen einer Ehe“ nach Ingmar Bergmans Film,
inszeniert von Jan Bosse im Schauspielhaus, wiedereröffnet nach
pannenreicher Umbauphase.
Marianne ist ehemalige Ehefrau, Mutter zweier Kinder und Anwältin. Hinter
ihr erhebt sich eine verschachtelte, dreistöckige Einfamilienburg im Stil
der Siebziger. Unverkleidete Kulissenrückwände wechseln sich mit heiter
tapezierten Innenseiten des komplexen Baus ab. Ein Flokati, Kamin und die
obligatorische Makramee-Eule malen die inszenierte Gemütlichkeit aus, aber
auch die beengende Alltäglichkeit.
„Ist die Psychose Antwort auf die Frage der Bewusstwerdung?“ Das fragt eine
der fünf Persönlichkeiten, in die die Rolle des Erzählers aufgespalten ist
in der Inszenierung von Bernward Vespers Buch „Die Reise“, inszeniert von
Martin Laberenz in der Nebenspielstätte Nord. Beantworten können die Stücke
des Stuttgarter Beginns diese Frage natürlich nicht, aber dort ansetzen wo
die Konflikte entstehen.
## Das lebendige Spiel von Astrid Meyerfeldt und Joachim Król
Der tosende Applaus und die begeisterten Zwischenrufe des Publikums,
durchschnittlich im Rentenalter, bei „Szenen einer Ehe“, ist wohl der beste
Beweis, dass die Thematik direkt den Nerv der Zuschauer getroffen hat. Um
kein falsches Bild zu vermitteln: Für die Begeisterung war das
fortgeschrittene Alter nicht notwendig; auch wer den Titel „Szenen meiner
Kindheit“ persönlich passender gefunden hätte, konnte sich dem lebendigen
Spiel von Astrid Meyerfeldt und Joachim Król nicht entziehen.
Mit Tempo und einer unglaublichen emotionalem Wandlungsfähigkeit spielen
sie sogar die endlich funktionierende neue Drehbühne an die Wand, die
schließlich inklusive der darauf aufgebauten kleinbürgerlichen Festung im
Boden versinkt.
In gewisser Weise schließt Armin Petras mit „5 morgen“ an „Szenen einer
Ehe“ an. Denn was passiert, wenn der Zusammenbruch des privaten Raumes
öffentlich wird, weil das Innen und Außen längst eins geworden sind? Fühlte
man eben noch eine paradoxe Nostalgie beim Anblick des nun versunkenen
bürgerlichen Wohnzimmers, drängt sich in „5 morgen“ die Ahnung auf, dass
auch der Gegenwart eine ähnliche Zukunft bevorstehen könnte.
Natürliche Farben gibt es nicht, alles ist entweder grau oder künstlich im
Bühnenbild. Überlebt haben in dieser Interpretation der Zukunft der
Selbstdarstellungszwang und der Erfolgsdruck, gestorben ist die Hoffnung.
## Die obligatorischen bunten Hipstersocken
Nicht nur die Projektionen medialen Bildsalates, die unkommentiert das
Stück begleiten, sondern auch die Charaktere erinnern an den eigenen
Alltag. So wie beispielsweise Jungakademiker August mit schlecht sitzender
BWL-Seitenscheitelfrisur und den obligatorischen bunten Hipstersocken. Oder
Paul, Schnauzerträger mit rausgewachsener Vokuhilafrise, Bauchansatz und zu
kurzer Neunzigerjahre Printjogginghose.
Nebenbei geht die Welt unter, was im Grunde egal ist, denn Überlebenskampf
ist sowieso alltäglich. Statt der Panik zu verfallen, spitzt sich die
Atemlosigkeit und der Geltungszwang unter dem Funktionsdiktat der
Leistungsgesellschaft einfach weiter zu. Bis alle gemeinsam im modern
reduzierten Clownskostüm eine Art grotesk alltägliche
Hochleistungschoreografie tanzen.
Wo man bei dieser Zukunftsvision das Gefühl hat, sehr nah dran zu sein am
eigenen Umfeld und der vielleicht eigenen Krise, verschiebt sich die
Wahrnehmung von scheinbar völlig vertrauter Umwelt im „Autostück. Belgrader
Hund“ von Anne Habermehl, das Stefan Pucher tatsächlich für zwei
Schauspieler und drei Zuschauer auf einer Autofahrt inszeniert hat. Auf der
Rückbank sitzend folgt man dem Gespräch von Bogdan und Beifahrerin Liljana,
während an den Autoscheiben vorbeizieht, was man schon tausendmal gesehen
hat.
Auf befremdliche Weise ändert sich mit dem Dialog der Beiden auch das
bekannte Bild der Stadt. Man erfährt von der serbischen Herkunft, von
Perspektivlosigkeit und dem Zerrissen sein zwischen zwei Welten. Laut
denkend erzählt die verlebte Blondine Liljana, gespielt von Marietta
Meguid, von ihrem Wunsch dazuzugehören. Alltäglichkeiten transformieren
sich, Mercedes wird vom starken Finanzpartner Stuttgarts zum
Panzerexporteur. Liljana macht diese Welt krank aus der Gewissheit, dass
ihre Vergangenheit nicht mit der Geschichte dieser Stadt übereinstimmt.
Zurück bleibt man als Teilnehmer an diesem Petras-Marathon am Ende selbst
mit einer unzuverlässigen Wirklichkeit. Es sind viele Anstöße, die das
Eröffnungswochenende gibt und wenn Armin Petras meint „Ich vermittle
allerhöchstens zwischen Menschen und Texten und noch mal Menschen, da unten
und da draußen“, dann ist ihm das auf vielseitige Weise gelungen. Denn
vermitteln bedeutet, denjenigen zu kennen, dem man vermittelt. An diesem
Punkt siegt Armin Petras mit Sensibilität für die Diversität von
Gesellschaft und Theaterpublikum.
30 Oct 2013
## AUTOREN
Judith Engel
## TAGS
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Stuttgart
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Theater
Frauenkampftag
Maxim Gorki Theater
Robert Enke
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