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# taz.de -- 100 Jahre Münchner Kammerspiele: Kopulieren mit Jesus
> Ein Sammelsurium der Extreme in bayrischem Dialekt: Armin Petras
> inszeniert in München das Kroetz-Fragment „Bauern sterben“.
Bild: Vorsicht Flutlicht!
Mord, Selbstverbrennung, Zuhälterei, Prostitution – Franz Xaver Kroetz hat
in seine Sozialapokalypse „Bauern sterben“ von 1985 ein Sammelsurium der
Extreme reingepackt. Nun ist das Stück, in dem zwei Bauernkinder ihr Glück
in der Stadt versuchen und scheitern, in seiner Textfassung ein rohes
Biest, widerwärtig, sperrig, morbid, vulgär und in seinem Dialekt für
Nichtbayern unlesbar.
Der Generationenstreit über einen Bauernhof wirkt antiquiert, die Flucht in
die Stadt als Metapher für Flüchtlingsleid dagegen hochspannend. Was macht
also der Regisseur Armin Petras aus dieser in die Jahre gekommenen
Groteske, die an den Kammerspielen läuft, weil das Haus zum 100. Geburtstag
prägende Stücke aus seiner Geschichte zeigt?
Er nimmt sich die größtmögliche Freiheit und damit Kroetz beim Wort. Denn
der Autor, der sein Werk 1985 selbst an den Kammerspielen inszenierte,
sagte, dass sich ein Regisseur darin wie in einem Steinbruch bedienen
könne.
## Alle reden aneinander vorbei
Petras baut aus ein paar Brocken sein eigenes irres Stück. Erzählerisch
dicht wird in der Eingangsszene der Stumpfsinn der Bauernfamilie etabliert.
Vater, Mutter, Sohn und Tochter brüllen sich in Bairisch, Fränkisch,
Hochdeutsch und Luxemburgisch an. Hier redet jeder an jedem vorbei.
Den Vater gibt André Jung überzeugend als cholerische Karikatur eines
Patriarchen, der vom Sohn in Heimaterde erstickt wird. Als Mutter näselt
sich Michael Tregor durch Boshaftigkeiten. Die Großmutter krepiert, wen
juckt’s? Und wo ein Jesus im Lendenschurz (Lasse Myhr) sprachlos bleibt,
demaskiert sich Religion als unnützes Beiwerk.
Auf dem Weg in die Stadt begegnet den Geschwistern (Thomas Schmauser, Marie
Jung) eine arbeitslose Menschin (Ursula Werner), die sich aus Verzweiflung
anzündet. Als die Selbstmörderin in Flammen aufgegangen ist, erreichen die
Geschwister die Stadt.
Petras gelingt eine großartige Metapher für die Verstörung im
Asphaltdschungel: Mit dem Heiland im Schlepptau balancieren und klettern
Bruder und Schwester auf Metallrohren, die auf der kargen Bühne ein
quadratisches Netz bilden, untermalt von Miles Perkins melodischem Folkpop,
der sich zum dröhnenden Gitarrengeschrammel steigert.
## Das Elend weicht dem Amüsement
Doch überraschend weicht das Elend dem Amüsement und das Stück switcht in
eine komplett andere Tonlage. Die Inszenierung wird, dominiert von der
ironisch-abgedrehten Improvisation des fränkelnden Thomas Schmauser, zum
anarchischen Klamauk, wenn dieser etwa, als sich die Geschwister häuslich
einrichten wollen, über die Idiotie der Selbstbaumöbel flucht. Schmausers
Einlagen nehmen dem Kroetz-Text das Abgründige, was für Erheiterung im
Publikum sorgt.
Der Nachteil: Seine starke Präsenz lässt die anderen Protagonisten
stellenweise blass wirken. Die Thematisierung sexueller Ausbeutung und der
Flüchtlingsproblematik bleibt wegen der Überbetonung der komödiantischen
Elemente flach.
Die Tochter passt sich dem Überlebenskampf in der Stadt rascher an, wird
zur Sexarbeiterin, umschlingt die Poledance-Stange. Der Bruder klopft wie
ein Neandertaler Steine, schwitzt im Schlachthof und schwadroniert als
Zuhälter scheinheilig von der Bewahrung der Reinheit der Schwester, um sie
sogleich dem nächstbesten Freier anzubieten.
## Kunstblut aus Flaschen
Bruder und Schwester kopulieren abwechselnd mit Jesus, bis der Bruder
diesen erschlägt, das Kunstblut fließt aus Flaschen. Schmauser schrubbt
sich das Hinterteil mit einer Klobürste.
Nach dieser wilden Tollerei verwirrt der ernste Abschluss, wenn die
Tragödie des Auswanderns, leider nur sehr kurz, noch einmal aufscheint.
André Jung gibt nach Heiner Müllers „Germania 3“ einen Mann, der nach zwei
Jahren als „Gastarbeiter“ in Deutschland zurück in seine Heimat Kroatien
kam und Frau und Kinder erschlug.
Zuletzt kommt ein Ehepaar zu Wort, frei nach „Furcht und Hoffnung der BRD“
von Kroetz. Die Frau ist arbeitslos und suizidgefährdet. Der Mann redet die
Malaise schön. Doch die Frau blinzelt zum Fenster. Ein Sprung und schon
wär’s erledigt. Man hätte sich eine Vertiefung dieser enorm beeindruckenden
Szenen gewünscht.
So bleibt nach diesem Theaterabend, in dem es Petras zwar geschafft hat,
die Bauerngroteske mit interessanten Ansätzen zu beleben, angesichts der
rasanten Stimmungswechsel ein zwiespältiger Eindruck zurück.
7 May 2013
## AUTOREN
Annette Walter
## TAGS
Theater
Selbstverbrennung
Armin Petras
Münchner Kammerspiele
Prostituierte
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Frank Castorf
Robert Enke
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