# taz.de -- Anderes Temperament: Rückkehr ins Gegröle | |
> Über professionelles und unprofessionelles Fußballgucken. | |
Bild: Im Wettbüro lässt es sich entspannter Glotzen als in manch einer Kneipe… | |
Schales Bier, Weißweinverschnitt, Wodka, der nach Akkusäure schmeckt, und | |
Erdnüsse, die nach Omas Küchenschrank müffeln – das sind die Zutaten, die | |
zum gepflegten Fußballgucken gehören, jedenfalls in jenen Berliner Kneipen, | |
wo das Herrengedeck zu den meistverkauften Getränken gehört. Und diese | |
Kneipen sind nun mal die Orte, die auch außerhalb von WMs ihren kleinen | |
Fernseher über der Theke anschalten, wenn Fußball läuft, und wo sich neben | |
den Stammgästen auch Menschen treffen, die solche Etablissements gewöhnlich | |
meiden, da sie lieber Moscow Mule trinken. | |
Da diese Orte seit der neuen Fußballbegeisterung 2006 schwer überlaufen | |
sind, gewöhnte ich mir das Fußballgucken in den Sportwettenstudios | |
Kreuzbergs und Neuköllns an. Dort hatte man freie Sicht auf mehrere | |
Bildschirme, Getränke und Nüsse kamen gekühlt und vakuumverpackt aus dem | |
Automaten. Außerdem ist man unter Menschen, die keine Fußballfans sind, | |
sondern Fans ihres Wettscheins. Das wiederum bedeutet, dass die Spiele dort | |
regelrecht gelesen, Aufbau, Pässe, Flanken professionell kommentiert und | |
vorausgesagt werden. | |
Angenehm an diesem Setting ist auch, dass ein Profiwetter sich äußerst | |
selten über eine Schiedsrichterentscheidung aufregt. Denn der Profiwetter | |
hat sich für seinen Ergebnistipp nicht nur die Mannschaftsaufstellung, | |
sondern auch den Schiedsrichter genau angesehen und einkalkuliert. Das | |
Reizendste am Fußballgucken unter Profiwettern ist jedoch, dass jene, die | |
verlieren, am Ende einfach nur ihren Tippschein in den Papierkorb | |
schmeißen. Und anstatt andere dafür verantwortlich zu machen, dass „ihr“ | |
Verein verloren hat, stellen sie sich selbst in Frage und ärgern sich über | |
ihre Unzulänglichkeit, irgendwas falsch berechnet zu haben. | |
Bloß sind Sportwettenstudios inzwischen kein Geheimtipp mehr. Und so ließ | |
sich das Studio meines Vertrauens kürzlich von der verlockenden Masse | |
verleiten und zeigte statt der WM-Playoffs das Freundschaftsspiel | |
Deutschland – Italien. Wo sonst türkische, bosnische und deutsche | |
Wettprofis gemeinsam mit türkischen, italienischen und deutschen Hipstern | |
Fußball guckten, waren auf einmal die Deutschlandfans in der Mehrheit und | |
der Laden, sonst sehr gut besucht, ziemlich leer. | |
Und also entschied ich, das nächste Fußballspiel, es war Dortmund gegen | |
Bayern, mal wieder in einer normalen, also hippen Kreuzberger Kneipe zu | |
gucken: „Judas“, „Pussy“ und „Scheiß-Schiri“ wurde gebrüllt, Stin… | |
in alle Richtungen wurden gezeigt, Schals wurden geschwungen, Biergläser | |
fielen dabei um, „Foul“ wurde gegrölt, wo gar keins war, und bei jeder | |
Ballberührung des eigenen Vereins „Spiiiiieeeel“ gezischt. | |
Ein Bauarbeiter, der die ganze erste Halbzeit über Fensterformate, | |
Flaschenzüge und andere Probleme auf seiner Baustelle erzählt hatte, reckte | |
irgendwann einfach die Faust und rief: „HSV!“ Das war fast so erlösend wie | |
der Abschlusspfiff. | |
1 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
## TAGS | |
Berlin-Kreuzberg | |
taz.gazete | |
taz.gazete | |
Berlin | |
Fußball | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte um das coole Berlin: Der große Wumms | |
Der Coolnessfaktor sinkt: Der von Berlin im allgemeinen und der von | |
Kreuzberg im Besonderen. Endlich! | |
Kolumne Anderes Temperament: Technohöhle statt Höhensonne | |
Der unschlagbare Vorteil des Dunklen: Nirgendwo sonst können sich müde | |
Augen vor den Blicken der anderen so gut verstecken wie im Technotempel | |
oder im Kinokeller. | |
Kolumne Anderes Temperament: Neues Jahr, neue Handwerker | |
Auch mal schön, wenn Handwerker nicht dem Klischee entsprechen. | |
Eine Britin in der deutschen Hauptstadt: Berlin ist ein sehr nettes Dorf | |
Die Londoner Bloggerin Bim Adewunmi war für zwei Monate bei der taz. Sie | |
wirft einen Blick auf die Stadt, ihre Bewohner und ihre Bräuche. | |
Fußball-Bundesliga: Fünfter Sieg in Folge für Gladbach | |
Gladbach besiegt Freiburg – an der Tabellenspitze gibt es keine | |
Veränderungen. Doch für großen Unterhaltungswert sorgen die Hoffenheimer im | |
Duell mit Bremen. |