# taz.de -- Eine Britin in der deutschen Hauptstadt: Berlin ist ein sehr nettes… | |
> Die Londoner Bloggerin Bim Adewunmi war für zwei Monate bei der taz. Sie | |
> wirft einen Blick auf die Stadt, ihre Bewohner und ihre Bräuche. | |
Bild: Typisch Berlin: Kaum eine Wand ist ohne Zierde. | |
BERLIN taz | Meinen Durchbruch hatte ich an einem eiskalten | |
Novembernachmittag. Ich bummelte über den Samstagsmarkt am Maybachufer. | |
„Entschuldigung“, sagte ich auf Deutsch zu dem Mann, der an der Hintertür | |
seines Stands eine rauchte. „Hallo, ich möchte ein Sandwich, bitte.“ Pause. | |
„Mit Pute, Weißkraut, Käse und Meerrettich, bitte“. Ich hielt den Atem an. | |
„Vier Minuten?“, fragte er. „Kein Problem, danke“, sagte ich. | |
Ich weiß, es klingt, als würde ein Kind um etwas zu essen bitten. Aber für | |
mich war es eine große Sache: meine allererste Unterhaltung, die ich | |
komplett auf Deutsch geführt hatte. Hätte ich eine Flasche Schampus | |
dabeigehabt, ich hätte sie geöffnet und herumgespritzt wie ein | |
Formel-1-Gewinner. | |
Bis vor Kurzem war Berlin für mich terra incognita. Aus britischer | |
Perspektive ist Deutschland höchstens ein Fußballgegner, ein Land mit | |
langen Wörtern und neuerdings so was wie der Retter Europas. Aber ich habe | |
in der Schule kein Deutsch gelernt, mein Wortschatz reichte gerade für die | |
Standard-Grußformeln, „Danke“ und „Bitte“. Trotzdem hatte ich mich dazu | |
entschieden, für zwei Monate Berlinerin auf Zeit zu werden. Und musste mich | |
als Londonerin erst an einige bizarre und wundervolle Gepflogenheiten | |
gewöhnen. | |
Vor allem eines finde ich unfassbar: wie relaxt die Hauptstadt von Europas | |
größter Wirtschaftsmacht ist. Ich habe das Leuten aus anderen Ecken | |
Deutschlands erzählt, sie haben mich für verrückt erklärt. Aber in London, | |
wo ich geboren bin und die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe, | |
passiert alles in Lichtgeschwindigkeit. Da hat keiner Zeit, mal kurz stehen | |
zu bleiben und über sein neues Kunstprojekt zu quatschen, oder wie es einem | |
gerade geht. | |
## Ein großes, nettes Dorf | |
Auch in Nigerias Hauptstadt Lagos habe ich ein paar Jahre gelebt. Im | |
Vergleich dazu ist Berlin ruhig und bezaubernd. Ein sehr großes, sehr | |
nettes Dorf. In der U-Bahn ist nicht mal während der Stoßzeiten viel los. | |
Die Stimmung ist gelassen. Gleich nach meiner Ankunft hatte man mich vor | |
der berühmten „Berliner Schnauze“ gewarnt, und ich war darauf eingestellt, | |
sofort zurückzupampen. Aber bis auf ein einziges Mal waren alle nett, | |
geduldig und hilfsbereit, wenn ich mit meinem schrecklichen Deutsch | |
loslegte. Und ich bin allen unendlich dankbar, dass sie mir auf Englisch | |
antworteten – sicher auch, um mir nicht weiter dabei zuzuhören, wie ich | |
ihre Sprache vergewaltige. | |
Seien wir ehrlich: In manchen Dingen lässt die Berliner Höflichkeit zu | |
wünschen übrig. Vom Schlangestehen hat man hier wohl noch nichts gehört. | |
Sicher, es gibt Witze darüber, dass Schlangestehen britischer Nationalsport | |
ist. Aber in Berlin scheint man Anstehen nicht mal als Möglichkeit zu | |
begreifen. In der U-Bahn wartet keiner, bis alle draußen sind, bevor er | |
einsteigt. Und die Busse – reines Chaos. Ist hier nicht sonst alles so | |
strukturiert? Ein so schöner wie rätselhafter Widerspruch. | |
Auch „Entschuldigung“ sagt hier keiner, obwohl es nur vier Silben sind. | |
Fast täglich hat mich jemand angerempelt oder ist mir auf den Fuß getreten, | |
aber nur eine einzige Frau hat sich entschuldigt, es war am Mehringdamm. | |
Als Britin entschuldige ich mich nonstop für etwas. Inzwischen habe ich | |
mich angepasst, aber schon jetzt ist mir klar, dass es zu Hause hart werden | |
wird, bis die „Sorry“-Sagerei wieder zur Gewohnheit geworden ist. | |
Am ungewöhnlichsten finde ich das Starren. Berliner taxieren Fremde gern, | |
und wenn man sie dabei erwischt, machen sie einfach weiter. Gut, ich sehe | |
nicht wie der Normalo-Berliner aus: Ich bin schwarz, habe einen Afro und | |
trage oft riesige weiße Kopfhörer. Aber irgendwann wird das Glotzen | |
unangenehm. Ich wurde angestarrt, während ich im Supermarkt Brötchen | |
aussuchte, ich wurde auf dem Weihnachtsmarkt angestarrt und in der U-Bahn. | |
Gleich zweimal blieb es nicht dabei: Am Hermannplatz griff mir ein Fremder | |
auf einmal in die Haare. | |
„Kunta“, sagte er. Vermutlich meinte er Kunta Kinte, den Sklaven, über den | |
Alex Haley in „Roots“ geschrieben hat. Und einen Monat später fasste mir | |
ein anderer Typ mitten auf dem Alexanderplatz ins Haar. Und lachte. | |
## Kosmopolitisches Anfassen | |
Berlin sei so multikulti und international, hatten alle erzählt. Ich fand | |
auffällig, wie wenige dunkelhäutige Menschen es gibt. Jemand wie ich mag | |
hier also eher ungewöhnlich sein – aber das ist noch lange kein Grund, | |
jemanden anzufassen. So kosmopolitisch wie es gern tut, ist Berlin dann | |
doch noch nicht. | |
Noch mehr Dinge sind mir aufgefallen: Graffiti. Berlin scheint süchtig | |
danach zu sein. Längst nicht alles ist politisch, vieles hat gar keine | |
Botschaft. Es wird einfach irgendetwas auf irgendeine Oberfläche | |
geschmiert, seien es Ladenjalousien, Fensterrahmen, sogar der Bürgersteig. | |
Und meistens ist es hässlich. Aber selbst in den hübschesten Kiezen | |
akzeptieren die Berliner es offenbar. In London werden Graffiti zügig und | |
routinemäßig überstrichen. Dass man sich hier überhaupt nicht darum schert, | |
war ein Schock für mich. | |
Erschrocken war ich anfangs, weil überall Menschen die Mülleimer | |
durchwühlen. Dann erklärten mir Kollegen, was dahintersteckt: dass sie nach | |
Pfandflaschen suchen, um sie zu Geld zu machen. Die Idee ist derart | |
logisch, dass ich nicht verstehe, wieso es das nicht in London gibt. | |
Apropos Geld: In London habe ich nie mehr als 10 Pfund in bar dabei, ich | |
benutze meine Karte. Hier schleppe ich dauernd Scheine und Münzen mit mir | |
rum. Das ist so altmodisch für das Jahr 2013! Zugegeben: Mir wurde dadurch | |
bewusster, wie viel ich ausgebe. Bei Plastikgeld verdrängt man das ja gern. | |
Mein Berliner Abenteuer ist fast vorbei. Ich habe die Zeit hier geliebt: | |
herumzulaufen und alles Rätselhafte zu fotografieren, auch meinen | |
Deutschkurs. Ich habe meinen neuen Freunden versprochen wiederzukommen. | |
Aber frühestens im nächsten Sommer. | |
Übersetzung: Anne Haeming | |
13 Dec 2013 | |
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