# taz.de -- Die Wahrheit: Sieben Syndrome | |
> Auf den reizüberfluteten Spuren des Dichters Stendhal: Die irre | |
> Geschichte einer italienischen Reise in den Wahnsinn. | |
Bild: Der überbordende güldene Barockprunk kann manchen Besucher von Florenz … | |
Mit sechzehn trampte ich einen Sommer lang quer durch Europa – Deutschland, | |
Österreich, Italien, Frankreich, Belgien, Niederlande und zurück. Hauptziel | |
war Goethes Sehnsuchtsland der blühenden Zitronen, die Heimat der | |
Italowestern und der Schweine mit Flügeln. Wir waren zu sechst unterwegs, | |
in drei Gruppen zu zweit. Einzige Ansage war: Nur trampen! Und: In zwei | |
Tagen treffen wir uns in Rom. | |
Città eterna, città aperta … – ich war überwältigt von der Hitze, vom S… | |
vom Chaos, von der Freiheit Roms und setzte mich mitten auf die Piazza | |
Navona, um meiner erhabenen Ergriffenheit dichterisch Ausdruck zu | |
verleihen. Die mit Augenrollen begleitete Frage der Freunde, was ich da | |
denn in meinen Notizblock hineinschreibe, wehrte ich mit der fahrigen Geste | |
des jungen Dichters ab, der nicht gestört werden wollte bei seinen | |
bahnbrechenden Balladen, die heute glücklicherweise verschollen sind. | |
Zu erzählen gab es genug. Wir ließen die Korken knallen. Ein Korken flog | |
aus dem Hotelfenster durch die enge Gasse in die gegenüberliegende Wohnung. | |
Das ältere Ehepaar drüben alarmierte sofort die Carabinieri, die hinter | |
ihren verspiegelten Sonnenbrillen gelangweilt die Anzeige aufnahmen, aber | |
nichts weiter taten, sodass die beiden Alten so lange durch die Viuzza | |
zeterten, sie seien von diesen irren Deutschen beschossen worden, bis wir | |
das Hotel wechseln mussten. | |
Rom war ein einziger Spaß, auch wenn sich die Gruppe langsam in zwei Lager | |
teilte. Zwei wollten nach Neapel und immer weiter nach Süden bis nach | |
Griechenland. Und plötzlich erklärte einer des mittleren Duos, er schließe | |
sich ihnen an. Wir Jüngsten protestierten, denn dann hätten wir seinen | |
Kumpel mitnehmen und zu dritt weitertrampen müssen. Der wollte nämlich | |
genauso wenig wie wir ins ferne Griechenland. Wir konnten ihn ja schlecht | |
zurücklassen. Doch sein Sozius stellte sich stur. Er hatte genug von, | |
nennen wir ihn, Bernd. | |
Bernd war schon immer ein wenig überdreht. Er laberte nicht nur den | |
üblichen bekifften Shit, er redete gern, und in Rom redete er sich in einen | |
Rausch, den wir bis dahin nicht kennengelernt hatten. Was auch seinen | |
Vorteil haben konnte. Es war zwar extrem schwierig, zu dritt zu trampen, | |
aber in Richtung Florenz gabelte uns ein Lastwagenfahrer auf, den Bernd mit | |
einer Art Pidgin-Italienisch zusalbaderte, sodass wir in Ruhe die Nasen aus | |
dem Fenster halten konnten, um Luft zu schnappen. Denn es stank bestialisch | |
in der Fahrerkabine. | |
## Spraydose Tannennadelduft | |
Kein Wunder, saßen wir doch auf einem Schweinetransporter, hinter uns | |
quiekende Lebendschnitzel. Wie uns allerdings der kleine König des Lenkrads | |
in seinem fleckigen Unterhemd breit grinsend zu verstehen gab, verbreiteten | |
keineswegs die Schweine den Gestank, sondern er selbst. Er sei seit Tagen | |
nicht mehr dazu gekommen, sich zu waschen. Mit großer Geste griff er | |
daraufhin in das Handschuhfach, nahm eine Spraydose Tannennadelduft und | |
besprühte sich die Füße. | |
In Florenz verschlimmerte sich die Lage. Bernd stieß kaum mehr zu | |
verstehende, unzusammenhängende Sätze aus. In den Uffizien und den Palazzi | |
brach aus ihm eine tief verschüttete Kraft hervor und er versuchte uns, | |
erfasst vom barocken Prunk und goldenen Glanz, lautstark das Wesen der | |
Kunst nebst dem Sinn des Lebens unter den Weiten des Universums zu | |
erklären. Wir Jungs sahen uns an und dachten beide das Gleiche. Bloß weg | |
hier. Ohne Bernd. Wir schulterten unsere Rucksäcke und liefen los. Raus aus | |
der Stadt. | |
Die Strada, die zur Autobahn führte, zog sich kilometerweit hin. Es war der | |
längste Marsch meines Lebens. Anfangs schauten wir uns noch um, ob Bernd | |
mithalten konnte und hinter uns war. Doch nach einer Weile ließen wir es. | |
Wir hörten nur noch die Autos, die an uns vorbeirauschten und marschierten | |
unbeirrt weiter, stets den linken Daumen in den Verkehr gerichtet. Bis ein | |
Käfer anhielt. Ohne den Kopf zurückzudrehen, kletterten wir hinein und | |
sprachen kein Wort bis Genua. Über uns lag eine Wolke der Schuld. | |
In den siebziger Jahren entdeckte die Psychiatrie die Städte-Syndrome. Kurz | |
zuvor war die Krebsforschung auf das Philadelphia-Syndrom gestoßen, was | |
nach dem Ort der Entdeckung benannt worden war. Dann wurde das | |
Stockholm-Syndrom populär, das immer wieder fälschlich der Roten Armee | |
Fraktion zugerechnet wird, die 1975 in Stockholm die deutsche Botschaft | |
überfiel. Tatsächlich ging das Syndrom auf eine Geiselnahme in einer | |
schwedischen Bank im Jahr 1973 zurück, bei der die Geiseln mit den | |
Bankräubern sympathisierten. Heute gibt es sogar das Lima-Syndrom, das | |
erstmals nach einem Überfall auf die japanische Botschaft in der | |
peruanischen Hauptstadt Lima 1996 diagnostiziert wurde und das Gegenteil | |
darstellen soll, dass nämlich die Geiselnehmer mit den Geiseln | |
sympathisieren. | |
Die Urzelle aller Syndrome im Städtesektor aber ist das Stendhal-Syndrom, | |
das nicht etwa nach einer Stadt, sondern nach dem französischen | |
Schriftsteller Stendhal benannt wurde. Es gilt als Inbegriff einer | |
„kulturellen Reizüberflutung“. Erstmals 1979 von der italienischen | |
Psychologin Graziella Magherini erfasst, geht es auf Stendhals im Jahr 1817 | |
veröffentlichte Skizze „Reise in Italien“ zurück, in der sich der | |
empfindsame Dichter nach der Besichtigung der florentinischen Kirche Santa | |
Croce in eine geradezu panische Begeisterung hineinsteigerte, die zu einem | |
regelrecht Wahnzustand führte. Bernd! | |
Die Städte-Syndrome machten schnell Karriere: Es folgte das | |
Venedig-Syndrom, das vor allem bei deutschen Touristen verbreitet ist, die | |
ihren Thomas Mann und seinen „Tod in Venedig“ im geistigen Gepäck haben. | |
Ähnlich gelagert ist das Paris-Syndrom, das jedes Jahr viele Japaner | |
befällt, die von dem Widerspruch zwischen ihrer überhöhten Erwartung an | |
Paris und den realen Gegebenheiten mental überfordert werden. Und dann ist | |
da selbstverständlich die bekannteste aller Städtekrankheiten, das | |
Jerusalem-Syndrom. Hunderte von Touristen und Pilgern im sogenannten | |
Heiligen Land halten sich jedes Jahr für Jesus oder anverwandte biblische | |
Gestalten und landen deshalb in der Klapse. | |
Als wir auf unserer italienischen Reise in Triest ankamen, war ich wie vor | |
den Kopf geschlagen: überall nur Irre. Mitten in der Stadt. Ein Panoptikum | |
aus verwachsenen und vor sich hin lallenden Gestalten paradierte durch die | |
Straßen. Kurz zuvor hatte der Psychiater Franco Basaglia die katastrophale | |
Lage der Kranken öffentlich gemacht und die Tore der Irrenanstalten | |
geöffnet. In der Stadt am Ende des westlichen Europas herrschte eine | |
Stimmung aus Revolution und Dekadenz. Jeden Donnerstagabend versammelte | |
sich die Jugend Triests in der Irrenanstalt, die in einem wunderschönen | |
Park lag. Zu den Hauptgebäuden führten von flackernden Fackeln gesäumte, | |
geschwungene Wege, und wenn man den schiefen Hang hinauflief, hörte man | |
bereits die stampfende Musik vom zentralen Platz, auf dem Irre, Junkies, | |
Künstler, Fremde und andere Ausgestoßene, die jetzt in den freien Häusern | |
lebten, ekstatisch tanzten. | |
Jeden Moment erwartete ich, dass Bernd aus dem Nebel der rauchenden Kerzen | |
und Joints auftauchte und mir den Sinn des Festes erklärte. Doch er kam | |
nicht. Ich sah ihn nie wieder. Heimgekehrt hörten wir fast ein Jahr später, | |
dass er noch Monate an der Stelle, an der wir ihn in Florenz nahe der | |
Autobahn zurückgelassen hatten, campiert haben soll. Irgendwann wird auch | |
er sich auf den Weg gemacht haben. Wohin weiß niemand. | |
10 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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