# taz.de -- Die Wahrheit: Gezeichnete Geister | |
> Wer den Mythos eines Spiels oder einer Zeitung verstehen will, muss ihre | |
> Bilder begreifen. Denn nur mit den Geistern der Geschichte gewinnt man | |
> die Zukunft. | |
Bild: Mit einer Art Pipeline der Kunst sollen die Städte Berlin, Budapest, Lyo… | |
An der rechten Wand meiner Bibliothek befindet sich, wie man heutzutage | |
jokig sagt, eine Holzmedientapete mit hunderten Büchern von Autoren, die | |
ich persönlich kenne. Neben den Regalen hängen kleine Karikaturen, in denen | |
mich ©Tom, Rattelschneck, Hauck & Bauer und andere Zeichner verewigt haben. | |
Gekrönt wird das Ensemble von einer Skizze des großen F.W. Bernstein, die | |
eine Szene aus dem Jahr 1992 zeigt: Nach dem Henscheid-Böll-Prozess in | |
Berlin saß Meister Eckhard im Kreise seiner Jünger. | |
An diesem Tag lernte ich viele Protagonisten der Neuen und Zweiten | |
Frankfurter Schule kennen wie Eckhard Henscheid und Fritz Weigle, Gerhard | |
Henschel und Heribert Lenz. Für mich bildet die Grafik meine Initiation ab, | |
damals wurde ich in den Club der gar nicht toten Dichter aufgenommen: „O | |
Captain! My Captain!“ | |
Aus dem Jahr 1999 stammt der Spielfilm „Any Given Sunday“ von Oliver Stone, | |
in dem der uralte Kampf zwischen Tradition und Moderne am Beispiel des | |
American Football verhandelt wird. In der Schlüsselszene lädt der alternde | |
Coach Al Pacino seinen egozentrischen Nachwuchsstar Jamie Foxx zu sich nach | |
Hause ein, wo er versucht, ihm den Mythos des Spiels nahezubringen. Sie | |
sitzen unter vergilbten Autogrammkarten und Siegerfotos, auf die der | |
Quarterback allergisch reagiert: „Wenn ich diese Bilder an der Wand seh, | |
macht es mich traurig. Es ist wie ein Raum voller Geister. Ich will nicht | |
einer dieser Geister an der Wand werden.“ Selbstverständlich wird er zum | |
Happy End des Films begreifen, dass er nur gewinnen kann, wenn er den Geist | |
des Spiels versteht. | |
Neulich schleuderte mir der weibliche Quarterback unseres Zeitungsteams | |
einen Satz entgegen: „Alte Geschichten zählen hier nicht mehr!“ Ich muss | |
sie angeguckt haben wie Al Pacino, mit diesem Blick voller Verblüffung, | |
Schmerz und Verachtung. Am liebsten hätte ich sie auch zu mir nach Hause | |
eingeladen, in meinen oft spöttisch „Prado von Friedenau“ genannten Salon, | |
wo dicht an dicht die hundert Jahre alten Kitschbilder eines Hans | |
„Zabatini“ Zatzka hängen, denen ich eine neue Bedeutung gab, als ich sie | |
aus ihrem Schlafzimmerdomizil befreite und wie alte Meister arrangierte. | |
Ich hätte ihr die Bernstein-Zeichnung gezeigt und auf eine Figur getippt: | |
Das ist unser bester Autor, der zehn Jahre nach dieser Szene einen großen | |
Sieg für unser Team gegen den übermächtigen Gegner von der anderen | |
Straßenseite errungen hat. Und ich hätte gesagt: Nur mit den Geistern der | |
Geschichte gewinnt man die Zukunft. | |
Aber wir sind nicht in Hollywood. Und sie ist nicht Jamie Foxx. Denn sie | |
denkt wirklich: Das sind doch nur Bilder, Bilder von Geistern. Womit sie | |
womöglich recht hat. Es sind tatsächlich nur Zeichnungen – wie schon vor | |
20.000 Jahren, als der erste Steinzeitmensch eine Jagdszene an die | |
Höhlenwand bannte und irgendjemand am Feuer sagte: „Das ist ja ganz schön. | |
Aber davon werden wir nicht satt. Kreide fängt keine Mammuts.“ | |
Mag sein. Aber die Mammuts sind ausgestorben, und die Bilder haben | |
überlebt. | |
19 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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