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# taz.de -- Algerien und Postkolonialismus: Ein Hauch von Emanzipation
> Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal schreibt gegen den
> Islamismus und die Militärs an. So auch in seiner Streitschrift „Allahs
> Narren“.
Bild: In den 80er Jahren erstarkte der Islamismus in Algerien. Moschee in der S…
Es war eine illustre Gesellschaft von Revolutionären, die sich im Algier
der 1960er Jahre einfand: von Che Guevara und Fidel Castro bis zu den
schillernden US-Bürgerrechtlern Malcolm X und Eldridge Cleaver. Nach 132
Jahren Kolonisation und einem blutigen Befreiungskrieg gegen Frankreich
wurde Algerien 1962 unabhängig. Im fortan sozialistischen, „bis ins Mark
materialistischen Algerien“ herrschte zunächst eine euphorische Stimmung,
schreibt Boualem Sansal, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, in
seinem neuen Essay „Allahs Narren“.
Doch es sollten bald auch schon andere Revolutionäre ins Land kommen, so
Sansal. Männer mit Bärten und folkloristischem Outfit, die eine inbrünstige
Frömmigkeit vor sich her trugen. In den 1980er Jahren erstarkte die
islamistische Bewegung auf breiter Front. Nach dem Verbot der Islamischen
Heilsfront (FIS) driftete das Land 1992 in einen jahrelangen, von beiden
Seiten brutal geführten Bürgerkrieg ab.
Im Gespräch erinnert sich Sansal an die Phase zuvor, als man die Islamisten
als politische Kraft in Algerien noch gar nicht ernst nahm. „Wir haben uns
über sie amüsiert. Schon damals hat man sie ’Allahs Narren‘ genannt“, s…
er am Rande einer Lesereise in Deutschland.
„Man muss ja wirklich verrückt sein, um den ganzen Tag in der Moschee zu
verbringen, zu beten und immer die gleichen Reden zu schwingen: ’Allah,
Allah, Allah‘.“ Sie hätten unentwegt vom Sterben, vom Kämpfen, um für Go…
zu sterben, gesprochen. Und vom Kampf gegen das ihrer Meinung nach
atheistische, sozialistische, kommunistische Regime.
Das Amüsement der algerischen Intellektuellen war bald vorbei. Schnell
breiteten sich die Islamisten im postkolonialen Algerien der 1980er Jahre
aus. Unter den treibenden Kräften waren auch Muslimbrüder aus Ägypten,
außerdem Islamisten aus Syrien, Irak oder Südjemen, die in ihren Ländern
verfolgt wurden. In Algerien fanden sie Exil und neue Betätigungsfelder.
Dazu gesellten sich auch Wahhabiten, ultraorthodoxe Muslime aus
Saudi-Arabien. Innerhalb weniger Jahre gelang es ihnen, die Gesellschaft
umzuformen, wie Sansal rückblickend beklagt.
## Amüsement wäre besser
„Junge Leute wollen sich doch amüsieren oder ins Fußballstadion gehen. Aber
nein, sie gehen nicht zum Fußball, sie gehen nicht an den Strand. Sie gehen
in die Moschee und sind traurig.“ Ein halbes Jahrhundert nach der
Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre ist der Gesellschaftsbefund für Algerien
heute niederschmetternd. Die frühere Befreiungsbewegung ist schon lange zu
einer autoritären und korrupten Militärherrschaft geworden, die
demokratisch-zivile Opposition wird zwischen ihr und den Islamisten
zerrieben.
Boualem Sansal schreibt in Algerien sowohl gegen den Islamismus als auch
gegen die herrschenden Militärs an. Er ist deswegen immer wieder mit
Morddrohungen konfrontiert. Doch als einer der wenigen unabhängigen
Intellektuellen ist er im Land geblieben. Seine Schriften sind der
autoritären Regierung ein Dorn im Auge und in Algerien verboten. 1999, nach
Erscheinen seines ersten Romans, „Der Schwur der Barbaren“, geriet der
studierte Ökonom und Ingenieur verstärkt ins Visier der Staatssicherheit.
Er wurde seines Postens als Direktor im Industrieministerium entbunden und
2003 aus dem Staatsdienst entlassen.
Und dass der 1949 geborene Schriftsteller es im vergangenen Jahr wagte, zu
einem Schriftstellertreffen nach Israel zu fahren, machte ihn der gesamten,
arabisch-nationalistisch denkenden Welt verdächtig. Die palästinensische
Hamas stempelte ihn zum „Verräter“. Dass von den arabischen Botschaften in
Frankreich gestiftete Preisgeld für die Auszeichnung „Prix du Roman Arabe“
wurde ihm kurzerhand wieder aberkannt.
Seine aktuelle Streitschrift sei nun keine, so Sansal, die den Islamismus
kritisch durchleuchten will, keine wissenschaftliche Abhandlung, vielmehr
sind es die „Betrachtungen eines Zeitzeugen“. Als Zeitzeuge hat Boualem
Sansal zuletzt den Arabischen Frühling miterlebt. Ein Hauch von
Emanzipation wehte durch die Region. Zu den treibenden Kräften der
demokratischen Revolte gehörten in allen arabischen Staaten Jugendliche und
Frauen. „Doch die Islamisten“, sagt Sansal, „haben es gleich begriffen und
eines ganz oben auf ihre Agenda gesetzt: die Kontrolle über diese Massen zu
gewinnen.“ Sie seien auf dem besten Wege dorthin.
## Mangelnde Aufgeklärtheit
Für Sansal ist der Arabische Frühling bereits gescheitert – hat er doch auf
dem Weg demokratischer Wahlen undemokratische Regime an die Macht gebracht.
Und wo die Islamisten nicht direkt an den politischen Schaltstellen sitzen,
machen sie ihren Einfluss nun geschickt geltend, passen sich und ihre
Netzwerke den jeweiligen Bedingungen geschmeidig an. Ihr Ziel sei aber
überall das gleiche: „die totale Kontrolle über Gesellschaft und Staat“.
Und dies auch über die traditionell muslimischen Territorien hinweg.
Warum sie mit ihren Ideologien so erfolgreich seien? Sansal beklagt die
mangelnde Aufgeklärtheit und Modernisierung der muslimischen, insbesondere
der arabischen Nationen. Ihre Propaganda instrumentalisiere die tatsächlich
vorhandenen sozialen Missstände, für die er das schlechte Regieren der
korrupten neuen Eliten nach der Phase der Dekolonialisierung verantwortlich
macht.
Aber auch das: Während der Islamismus sich ausbreitete, hätten die
Intellektuellen in den muslimischen Ländern passiv zugeschaut. Nicht genug
damit, dass sie den Islamisten das gesellschaftliche und politische Terrain
überließen – sie unternahmen bis auf wenige Ausnahmen, wie der Algerier
Mohammed Arkoun (1928–2010), der eine „Kritik des islamischen Vernunft“
verfasste, auch keinerlei Anstrengungen, eine Debatte über einen
aufgeklärten Islam zu führen. „Ohrenbetäubendes Schweigen“ wirft Sansal …
muslimischen Intellektuellen vor – und bezieht sich im Gespräch
selbstkritisch mit ein: „Ich hätte mein jetziges Buch 20 Jahre früher
schreiben sollen, nicht erst heute.“
Den Westen hält er in der Debatte mit dem Islam für viel zu zögerlich. In
Europa dürfe man heute alles kritisieren – nur den Islam und den Propheten
nicht, schreibt er in seinem Essay. Er erinnert an die verhaltenen
Reaktionen auf die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh sowie an die
Leisetreterei nach den Angriffen auf die dänische Zeitung Jyllands-Posten
wegen des Abdrucks der Mohammed-Karikaturen. Auch Frankreichs Präsident
François Hollande habe „bei seinem triumphalen Einzug in Mali nicht ein
einziges Mal von ’islamistischem Terrorismus‘ gesprochen“, obwohl es bei
der Befreiung Timbuktus durch französische Truppen um nichts anderes als
die Verjagung der Islamisten gegangen sei.
## Islam und Demokratie?
Für Sansal gehört nicht nur der Islamismus auf den Prüfstand, sondern der
Islam und sein Verhältnis zu Staat und Demokratie insgesamt: „Was für uns
selbstverständlich ist, die Vorstellung vom Staat, können Sie einem Muslim,
der sein ganzes Leben mit dem Islam verbracht hat, in der Regel kaum
erklären“, sagt Sansal. „Denn im Islam existiert diese Vorstellung nicht.
Da ist es vielmehr so: Gott regiert die Menschheit.“
Sind Islam und Demokratie also unvereinbar? Sansal lächelt und erinnert an
den steinigen Weg der Kirche zur Demokratie. Christentum und Demokratie
fanden schließlich auch nicht so einfach zueinander.
Sansal fordert mit „Allahs Narren“ jedoch auch eine entschiedenere Haltung
des Westens gegenüber undemokratischen Regimen. Man müsse aufhören, mit
Diktaturen Geschäfte zu machen. An die Intellektuellen in der muslimischen
Welt plädiert er, sich in ihren Ländern für eine demokratische Entwicklung
einzusetzen, statt nach Europa ins Exil zu gehen. „Muslime müssen um den
Islam kämpfen. Es ist an ihnen, den Islamismus zu bekämpfen, der ihre
Kultur und Religion zerstört.“
13 Dec 2013
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