# taz.de -- Die Wahrheit: Vernichtete Vorsätze | |
> Tagebuch einer Weihnachtsreisenden: Bevor es zum Fest nach Brüssel geht, | |
> ereignet sich ein sprachlicher Unfall im Kopierwerk. | |
Dieses Jahr verbringe ich Weihnachten in Brüssel, Heimat von Männeken Piss | |
und EU, von Fritten und Bier, Tim und Struppi, Brel und Simenon, Eddy | |
Merckx und Dries van Noten. Silvester muss ich dann wieder nach Hause und | |
gute Vorsätze fassen, was mich wie immer an die Vorsätze vom vorigen Jahr | |
erinnert, und an das, was aus ihnen wurde. | |
Im Januar 2013 besiegte ich tatsächlich voller Elan den Hoarder in mir und | |
beschloss, jahrelang teuer im Kopierwerk vor sich hin dämmernde | |
35-Millimeter-Reste meiner alten Filme der sogenannten Materialvernichtung | |
zuzuführen. Und weil gute Vorsätze sofort ausgeführt werden müssen, wurden | |
umgehend Lagerlisten hervorgekramt, Positionen geprüft, nach „kann weg“ und | |
„behalten“ markiert und an den zuständigen Sachbearbeiter geschickt, der | |
mir im Gegenzug – Zweck des Unternehmens – beträchtlich reduzierte Gebühr… | |
versprach. | |
Entsprechend ungläubig war meine Reaktion auf die unverändert hohe Summe, | |
die mit der Rechnung hereinflatterte. Per E-Mail wird Aufklärung erbeten, | |
worauf es eines Morgens folgendermaßen aus der Inbox grüßt: „Liebe Frau | |
Frankenberg, leider ist Ihre Vernichtung Anfang des Jahres untergegangen. | |
Herr X hat Ihnen ja bereits eine Gutschrift erstellt. Anbei eine | |
Vernichtungserklärung per PDF vorab. Bitte beide Seite unterschrieben an | |
mich zurück. Das Original kommt per Post.“ | |
Wie bitte? Das ist jetzt aber wirklich Hardcore. Nicht nur bedauert man, | |
dass ich noch da bin, ich soll mich bitte auch gleich selbst entsorgen? Und | |
zwar per PDF! Und bitte unterschriftlich bestätigen! Und was hat es mit der | |
bereits erstellten Gutschrift auf sich? Wofür ist die? Und für wen? | |
Immerhin hatte man ja bis zu meiner Nachfrage angenommen, ich sei Anfang | |
des Jahres schon – es fällt mir schwer, es zu sagen – vernichtet worden, | |
und wem, wenn also nicht mir, will man jetzt eine Gutschrift ausstellen? | |
Ungereimtheiten, die viel Klügere als mich ins Grübeln brächten … | |
Aber ich grüble nicht, ich fange beim Lesen an zu lachen. Ich lasse die | |
Absenderin wissen, ich sei erleichtert, dass meine Vernichtung | |
untergegangen ist, und will wissen, wie es jetzt weitergeht. Die Dame | |
übergeht kommentarlos die Gelegenheit zur gemeinsamen | |
Peinlichkeitsbewältigung und kündigt dafür die korrekte, nachzuholende | |
Materialvernichtung an. Inklusive Gutschrift. | |
Unaufmerksamkeit? Chuzpe? Plötzlich wächst Unbehagen in mir und lässt sich | |
nicht mehr unterdrücken. Diese verkörperte Ignoranz! So einen ungeheuren | |
Satz zusammenzuschlampen, und es nicht mal jetzt zu merken! Meine | |
Amüsiertheit ist verflogen, der Verstand bemüht sich derweil um | |
Beschwichtigung: War doch keine böse Absicht … die checkt’s halt nicht …… | |
hast doch gelacht! | |
Ich bleibe unversöhnt, vor allem mit dem kurzen Verlust meiner | |
Leichtigkeit. Aber in Brüssel, wo meine Familie, mutigen Menschen sei Dank, | |
nicht vernichtet wurde, und ohne das es mich nicht gäbe, wird sie längst | |
wieder zurück sein. Und darauf werde ich belgisches Weihnachtsbier trinken. | |
19 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
## TAGS | |
Film | |
Vernichtung | |
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