# taz.de -- Familie und das Fest: Das Weihnachts-Wir | |
> Der Heiligabend, dieses Immer-am-Rand-der-Katastrophe-Entlangschlittern. | |
> Warum man's trotzdem tut und warum es ein Wir ist, das man lieb haben | |
> muss. | |
Bild: Würstchen und Kartoffelsalat an Heiligabend – eine normale Familie eb… | |
An Heiligabend ist jeder verabredet. Aber es ist eine Verabredung, über die | |
man sich so sehr freut, wie man sich vor ihr fürchtet. Herrlich, könnte man | |
meinen, so viel Ambivalenz liegt selten in einem Treffen. Schon Wochen | |
vorher löst das Date mit der Familie ein so heftiges Hoch und Runter der | |
Gefühle aus, wie es ansonsten nur das erste Date nach dem Beziehungsende | |
schafft. | |
Die Gedanken kreisen nur um eines: Hoffentlich läuft’s gut. Was sagen, was | |
auf keinen Fall sagen, was tun, was auf jeden Fall bleiben lassen, wie um | |
Himmels willen den eigenen angeschlagenen Gefühlshaushalt so kontrollieren, | |
dass es nicht zum Eklat kommt, das Mascara auf den Wimpern bleibt und nicht | |
unter den Augen verläuft, die Ente auf den Teller, die verlorene Liebe | |
zurück- und beides nicht in den Mülleimer kommt – das Arsenal von | |
Deeskalationsstrategien, mit dem sich jeder für diesen Abend wappnet, wird | |
mit jedem Lebensjahr größer. | |
Aber letztlich hilft in diesem großen Ausnahmezustand nur eines: Hoffnung. | |
Denn bei diesem Date ist jede Strategie überflüssig, da erreicht werden | |
soll, was fast aussichtslos ist: vergessen, was war, warum man sich so | |
fremd geworden ist, und sich stattdessen bedingungslos lieb haben. | |
Alles dreht sich um die Verabredung, dass diese letzte lange Nacht, bevor | |
es dann langsam wieder heller wird, eine versöhnliche wird. Meistens | |
gelingt dies zwar dann doch irgendwie und mit den Jahren auch immer besser, | |
aber die Erfahrung des Immer-am-Rand-der-Katastrophe-Entlangschlitterns, | |
das äußerst Fragile, jederzeit kippen Könnende des ganzen Settings kennt | |
jeder. | |
Und diese Erfahrung ist eine derart schmerzhafte, dass sich wohl jeder alle | |
Jahre wieder mindestens einmal ganz kurz fragt, warum man sich das | |
eigentlich antut. Holy-Shit-Shopping hin, alternative Weihnachten im | |
Berghain her – man tut es ja trotzdem jedes Jahr, und global gesehen tun es | |
immer mehr Menschen. Weihnachten hat sich international durchgesetzt, sogar | |
in China und an Tropenstränden wird dieses höchst ambivalente Fest mit | |
Tannenbaum und Kunstschnee gefeiert. | |
## Unglaublich angsteinflößend | |
Nun, das Nächste liegt nahe: Wir tun es unseretwegen. Wegen des Wir. Und es | |
ist nicht dieses vereinnahmende gesellschaftliche und politische Wir, das | |
in den vergangenen Jahren in so verschiedenen Kontexten heftig irrational | |
beschworen wird. Es ist das Familien-Wir, auf das – so glauben und hoffen | |
wir – am Ende doch immer zu zählen ist. | |
Dieses Familien-Wir ist an diesem Abend aber ein besonderes, es will ganz | |
leise und auch nur für diese paar Tage einfach da sein, es ist ein | |
Weihnachts-Wir. Die Vorstellung, Heiligabend allein zu verbringen, ist ja | |
nur deswegen so unglaublich angsteinflößend, weil es der amtlich bestätigte | |
Nachweis dessen zu sein scheint, was keiner sein möchte: allein auf der | |
Welt. | |
Wer dagegen einwendet, Heiligabend auch schon mal allein verbracht und es | |
für okay befunden zu haben, dem glaub ich nicht. Ich war es auch schon. Und | |
es war mindestens so ambivalent und fragil wie im Kreis der Familie. Und es | |
war nur auszuhalten, weil ich den ganzen Abend mit dem Vorbereiten des | |
Dinners beschäftigt war, zu dem am ersten Weihnachtsfeiertag zwanzig Leute | |
kommen sollten. Dazu kam, dass trotz aller Geschäftigkeit an diesem | |
Heiligabend etwas fehlte. Und das war dann wohl: der Krach. | |
Als der Kreis meiner Kleinfamilie noch vollständig war, stand an | |
Heiligabend nicht die protestantische deutsche Mutter in der Küche und | |
schmiss Würstchen und Kartoffeln ins heiße Wasser. Es war der katholische, | |
kroatische Vater, der den ganzen Tag die Küche bespielte und die Düfte von | |
wässerndem Stockfisch, bratendem Lamm, köchelndem Kraut und frittierenden | |
Hefebällchen in die Kleiderschränke der Kinderzimmer schickte. Dazu sang er | |
laut und schief dalmatinische Liebes- und Trinklieder. | |
## Immer Krach | |
Und immer gab es Krach. Aber das gehörte eben zu der barocken Ausführung | |
dieses Abends, und dadurch, dass der Krach meistens kurz und laut und nicht | |
in dauernd anschwellenden Piksereien oder unterschwelligen Vorwürfen | |
bestand, war er auch kathartisch. Denn der Krach endete immer mit diesem so | |
heftigen wie schönen und versöhnlichen Vatersatz, den er immer lachend | |
sagte: „Wir sind halt verschieden. Aber dafür lieben wir uns.“ | |
Trotzdem wünschte ich mir früher an Heiligabend immer Würstchen und | |
Kartoffelsalat, das „Weihnachtsoratorium“ und den „Messias“ und keinen | |
Krach – eine normale Familie eben. Den katholischen Vater gibt es heute | |
nicht mehr. Und also sitze ich mit der protestantischen Mutter und der | |
Schwester bei so was wie Würstchen und Kartoffelsalat, es läuft so was wie | |
Klassikradio, und wir geben uns alle Mühe, eine normale Familie zu sein und | |
die Geschichte, unsere Geschichte, ein wenig zu vergessen und es uns nett | |
zu machen. Das ist nicht so einfach, denn wir sind halt sehr verschieden. | |
Aber voller Begeisterung erzählen wir uns alle jedes Jahr wieder von dem | |
Riesenkrach damals an den Heiligabenden. | |
Diesen Abend mit großem, lautem und also katholischem Tamtam zu begehen, | |
bei dem irgendwann irgendwas oder irgendwer zwischendurch tatsächlich mal | |
kurz im Mülleimer oder im Tannenbaum landet, der also mit großem Radau | |
verbunden ist, lässt sich letztlich leichter meistern. Und auch die | |
protestantische Mutter weiß es: Das mit dem Feiern können die Katholiken | |
einfach besser. | |
Als Beweis dafür müssen Zweifler nur mal daran erinnert werden, dass die | |
evangelische Christvesper seit einigen Jahren nicht mehr zwischen 16 und 18 | |
Uhr, sondern wie bei den Katholiken erst um Mitternacht gefeiert wird. Denn | |
mit dem Gang zur Mitternachtsmesse löst sich der kleine Familienrahmen | |
wieder ins gesellschaftliche Ganze auf, der Ausnahmezustand ist beendet. | |
Die Beobachtung, dass mit jedem Jahr die Kinder entspannter werden und den | |
Abend viel spielsicherer moderieren als die Eltern, ist natürlich die | |
Kinderperspektive. Aus Elternperspektive ist das Fest der Liebe vielleicht | |
das schwierigste Fest überhaupt. Denn es bedeutet nichts Geringeres, als | |
den anderen bedingungslos so anzuerkennen, wie er ist. Also anzuerkennen, | |
dass an den Kindern nichts mehr rumzuformen und rumzubasteln ist, auf dass | |
sie perfekt werden. Wenn Weihnachten also eine Erkenntnisquelle sein kann, | |
dann für die, dass wir alle wahnsinnig verschieden sind, dass wir das aber | |
auch richtig gut finden können. Und dafür kann man dieses Weihnachts-Wir | |
doch lieb haben. | |
Doris Akrap, 39, findet, dass Weihnachten ohne Bakalar und Fritula nicht | |
nach Weihnachten schmeckt. | |
24 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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