| # taz.de -- Clubsterben in Stuttgart: Ausgerockt im Talkessel | |
| > In Stuttgart schließt ein Club nach dem anderen. Die Locations müssen dem | |
| > Bahnprojekt S21 oder finanzstarken Investoren weichen. | |
| Bild: Zufriedene Clubber sehen wohl anders aus. Der Verein „Follow the White … | |
| STUTTGART taz | Carlos Coelho hat einen Club gerettet und doch verloren: | |
| Das Rocker33 in Stuttgart-Mitte. Coelho, 43 Jahre alt, läuft durch die | |
| Regenpfützen im Hinterhof des Clubs an der Lautenschlagerstraße, etwa 300 | |
| Meter vom Hauptbahnhof entfernt. Graue Wände, Mülltonnen, Platz für | |
| Lieferungen. „Hier wird’s schicke Bürobauten geben, mit Patio“, sagt er.… | |
| schüttelt den Schlüsselbund, öffnet eine Stahltür. Vorsichtig tastend | |
| betritt er das stockfinstere Rocker33 durch den Hintereingang. Zusammen mit | |
| zwei Partnern betreibt er den Elektro-Club, der jetzt vor dem endgültigen | |
| Aus steht. | |
| Coelho knipst schummriges Licht über der Bar an. Sie klebt noch. Egal. In | |
| fünf Stunden wird weitergefeiert, der „Closing-Countdown“ läuft. Zum 31. | |
| Januar schließt das Rocker. Der Mietvertrag wurde von der Eigentümerin, | |
| einer Tochtergesellschaft der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), | |
| gekündigt. Die Clubber waren hier nur Zwischennutzer des Gebäudes. | |
| Dabei wirkt das Innere überhaupt nicht provisorisch. „Hier wurden Löcher in | |
| die Wand geschnitten für die Notausgänge“, alles renoviert. Das war teuer. | |
| Coelho und sein Geschäftspartner Jan Theodorou haben dem Club 2012 aus | |
| einer wirtschaftlich schwierigen Lage geholfen. Gelohnt habe sich ihr | |
| Einstieg wegen der kurzen Zeitspanne nicht, meint Coelho. „Wir haben hier | |
| eine Menge Geld verbrannt.“ | |
| Die Schließung haben die Betreiber des Rocker kommen sehen. „Wir haben auch | |
| gesucht“, sagt er, „aber bis jetzt nichts gefunden.“ Sein Club ist nicht | |
| der einzige im Stuttgarter Kessel, der nach einer letzten durchtanzten | |
| Nacht nie wieder öffnet. Auch das einstige Domizil des Rocker, die alte | |
| Eisenbahndirektion am Hauptbahnhof, wurde für das umstrittene Bahnvorhaben | |
| S 21 abgerissen. S 21 hat mit der Röhre und dem Landespavillon zwei weitere | |
| Locations gekillt. Das Bahnprojekt ist nicht der alleinige Grund für die | |
| Raumnot, aber es hat die beengte Situation im Stuttgarter Talkessel | |
| verschärft. | |
| ## Die Kreativszene verliert ihre Orte | |
| All jene Ecken der Stuttgarter Innenstadt, die nicht von S 21 beansprucht | |
| werden, fallen finanzstarken Investoren in die Hände. In ihren Konzepten | |
| sind anstelle von Konzertclubs cleane Büros, die abertausendste | |
| Shoppingmöglichkeit und Restaurants vorgesehen. Es ist ein | |
| Verdrängungswettbewerb, bei dem allein das Geld entscheidet. | |
| „Wir haben mehrere Locations verloren, das ist ein ultimativer Tiefschlag | |
| für die Kreativ- und Clubszene“, sagt Thomas Schwarz. Der 35-Jährige ist | |
| Vorsitzender des Vereins „Follow the White Rabbit“ und sitzt im Café Galao | |
| in der Tübinger Straße. Über ihm ist ein Weihnachtsbaum an die Decke | |
| getackert. Schwarz trägt ein gelbes Kapuzenshirt. Eigentlich wäre er gern | |
| in seinem weißen Hasenkostüm gekommen. Ging aber nicht. „Das hab ich | |
| vorgestern ziemlich durchgefeiert im Kater Holzig in Berlin.“ Die White | |
| Rabbits wünschen sich mehr fantastische Orte in Stuttgart, wo sich Kunst, | |
| Musik und viele Leute treffen. So wie das märchenhafte Wunderland der | |
| Alice, in das sie von einem weißen Hasen entführt wird. | |
| Die Stuttgarter Hasen, das sind 41 enttäuschte Partygänger – „von der | |
| Haarstylistin bis zum Akademiker“, sagt Schwarz, die sich einst aufgrund | |
| der Schließung der Röhre zusammengefunden haben. Sie wollen Druck auf die | |
| Stadt machen. Kürzlich sind sie im Ausschuss für Umwelt und Technik | |
| aufgetreten. In ihren weißen Hasenkostümen und mit einem Banner. | |
| Aufschrift: „Momo hat graue Herren, wir haben Euch.“ | |
| ## Ein Vorschlag: Leerstand teuer bezahlen lassen! | |
| „Orte, die Kunst und Kultur fördern, verschwinden langsam“, sagte Schwarz | |
| vor dem Ausschuss, der ihm zwei Minuten Redezeit zugestand. Es werde der | |
| Stadt nicht guttun, wenn kreative Leute abwanderten. Er machte sich für | |
| Zwischennutzungen stark. Die Verantwortlichen sollen überlegen, ob bei | |
| Leerständen Eigentümer mit einer Gebühr belegt werden könnten. | |
| „Es müssen doch auch Türen aufgehalten werden für was Neues!“ Schwarz at… | |
| tief durch und lässt die Schultern fallen. „Warum klappt es in Berlin, und | |
| hier nicht, dass sich die Szene lebendig entwickeln kann?“ | |
| Coelho versucht schon lange, die Frage für sich zu beantworten. „Wir können | |
| nicht ausweichen, wie in anderen Städten, wo die Szene beweglich ist“, sagt | |
| er. Stuttgart liegt in einem Talkessel, wo sich das Leben im Zentrum | |
| abspielt. An den Hängen liegen Wohnviertel. Die beengte Situation wird von | |
| einer sogenannten Vergnügungsstättenkonzeption verschärft, die für Coelho | |
| so absurd wie unerklärlich ist. | |
| Er fährt sich mit beiden Händen durch die schwarzen, nach hinten gelegten | |
| Haare. Vergnügungsstätten, das heißt Spielhallen, Bordelle und Diskotheken, | |
| dürfen sich nur im Bezirk Stuttgart-Mitte befinden sowie in Stadtteilen mit | |
| wenig Wohnbebauung wie Bad Cannstatt, Feuerbach oder Weilimdorf. Hinzu | |
| kommt, dass man in Stuttgart tendenziell zentral feiert. „Wir können nicht | |
| einfach sagen: Wir sind vier Punkrocker, haben von Oma geerbt, kaufen eine | |
| Halle am Nordbahnhof und machen da ’ne Butze rein“, sagt er und wird zum | |
| ersten Mal laut im Gespräch. Er ist sehr nüchtern, ein Unternehmer, der für | |
| sein Geschäftsmodell kämpft. Und um ein bisschen Anerkennung für das, was | |
| er in der Stadt leistet. | |
| ## Keine Bühne für Einsteiger | |
| Erhalt der Subkultur – dieser Terminus kreist durch das Feieruniversum | |
| Stuttgarts. Coelho schaut in das Dunkel des Clubraums, der nach | |
| abgestandener Party riecht. Man fröstelt. Alles schwarz. Durch die | |
| Glasbausteine an der Front zur Straße, sieht man die Lichter der Autos | |
| vorbeihuschen. Subkultur. Coelho redet lieber von nicht subventionierter | |
| Kultur. Er kennt das Stuttgarter Nachtleben seit 1991, als er während des | |
| Abiturs einen Job als Barkeeper annahm. 1996 hat er sich mit einer ersten | |
| Bar selbstständig gemacht. „In den letzten zehn Jahren haben in Stuttgart | |
| unglaublich viele Läden aufgemacht“, sagt er. Aber um die Masse gehe es | |
| nicht. | |
| „Die Locations, die weggefallen sind, waren signifikante Bühnen, vor allem | |
| für Einsteigerbands“, erklärt Coelho. Sie boten Platz für je 300 bis 700 | |
| Besucher. In dieser mittleren Größenordnung gebe es kaum mehr was in der | |
| Stadt. Coelho hat noch den Kellerklub, wo nur 250 Leute Platz finden und zu | |
| Konzerten oft nur 40 kommen. Nicht weil die Bands zu schlecht sind, sondern | |
| zu unbekannt. Ihr nächster Auftritt war dann oft schon größer, konnte im | |
| Rocker stattfinden und hat Geld gebracht. | |
| Auch der Clubbetrieb war zum Geldverdienen da. Leute wie Coelho geben | |
| jungen Künstlern die Chance, sich einen Namen zu machen. Um das zu | |
| finanzieren, brauchen sie ihr Geschäftskonzept der internen | |
| Quersubventionierung. Geld von der Stadt wollen sie gar nicht. „Aber wenn | |
| uns von der Stadt das Leben schwergemacht wird, verlieren wir die Lust am | |
| Geschäft.“ Coelho ist Vorstand eines neuen Clubkollektivs von 14 | |
| Veranstaltern, die auf die Stadt zugehen wollen. | |
| ## Eine Stadt der Wirtschaft | |
| Der grüne Oberbürgermeister Fritz Kuhn hat im Wahlkampf gesagt: „Stuttgart | |
| braucht einen Oberbürgermeister, der vor der Subkultur den Hut zieht!“ Im | |
| November handelte er zwei Monate Verlängerung für das Rocker heraus. Mehr | |
| hat man dazu nicht gehört. Die Kulturbürgermeisterin Sabine Eisenmann sagt | |
| unumwunden: „Wir haben ein Problem damit, billige Räume für Interimsnutzung | |
| zu finden, wo auch Lärm gemacht werden darf.“ | |
| In Stuttgart gebe es weniger Leerstände als anderswo. Die Stadt sei in | |
| dieser Hinsicht „Opfer – in Anführungsstrichen – ihres wirtschaftlichen | |
| Erfolgs“, sagt Eisenmann. Seit zwei Jahren kümmert sich ein städtischer | |
| Angestellter um die „Nachnutzung für Kulturelles – aber wir sind nicht so | |
| weit, wie wir gern wären.“ | |
| „Wo tanzen wir morgen?“ Diese Frage stellt der Stuttgarter Filmemacher | |
| Denis Pavlovic in seiner Doku zum Clubsterben, die im Dezember Premiere | |
| hatte. Der weiße Hase Schwarz im Café Galao zuckt die Schultern. „Weiß | |
| nich.“ Er findet immer weniger Locations, die ihn reizen. Er wischt über | |
| sein Smartphone. Bei Facebook findet er Alternativen. Für diesen | |
| Samstagabend soll es der Klub Goldene Nacht sein, beworben als „die | |
| sagenumwobenste Off-Location Stuttgarts“. Um 2 Uhr nachts will er dorthin. | |
| Legale „Off-Locations“ wollen künftig die Rocker33-Leute bespielen, die | |
| planen, als Eventmanagement zusammenzubleiben. Mit dem Club sei es vorbei, | |
| sagt Coelho. Einen der Leerstände in der Stadt extra herzurichten, koste zu | |
| viel. Man müsse marktübliche Mieten bezahlen, den Brandschutz für mehrere | |
| hunderttausend Euro erfüllen und im Extremfall bei der Stadt für sechs | |
| Quadratmeter Veranstaltungsfläche je einen Parkplatz auslösen. Der kostet | |
| im Citybereich schlappe 13.000 Euro. | |
| ## Ein Künsterldorf für Feuerbach | |
| Nur ein Projekt bietet einen Lichtblick für die Szene: In leerstehenden | |
| Firmenhallen in Feuerbach soll ein Künstlerdorf mit Ateliers und Büros | |
| entstehen. Ob wie geplant auch eine Bühne für bis zu 5.000 Zuschauer | |
| entsteht, hängt davon ab, ob der Gemeinderat einer kulturellen Nutzung | |
| zustimmt. Stuttgart sei Opfer seines wirtschaftlichen Erfolgs, sagte | |
| Eisenmann. Wie recht sie hat: Viele Ratsmitglieder tun sich schwer, Flächen | |
| für das produzierende Gewerbe aufzuheben, wo die Stadt doch am Tropf der | |
| Industrie hängt. | |
| Wer trägt nun die Schuld für das Verschwinden der Locations? Schwarz will | |
| sie niemandem zuschieben, nicht der Stadt und auch nicht S 21 und der Bahn. | |
| „Sonst könnte man es gleich machen wie die Herzkönigin bei ’Alice im | |
| Wunderland‘: Ab mit dem Kopf!“ Aber dafür müssten die Verdächtigen erst … | |
| dem weißen Hasen folgen – in die bunte Welt der dunklen Nacht. | |
| 10 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Lena Müssigmann | |
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