| # taz.de -- Functional Food oder Genuss: Warum essen wir noch? | |
| > Morgens, mittags, abends ein Glas Nährstoffe – mit allem, was der Mensch | |
| > wirklich braucht. In Kalifornien designt jemand diese Zukunft. | |
| Bild: Was kommt heute auf den Teller? | |
| Das Essen der Zukunft kennt nur einen Aggregatzustand: flüssig. Nichts wird | |
| mehr kross, nichts cremig sein. Der Mensch nimmt nur noch eine braune Brühe | |
| zu sich, die aus der Leitung kommt. In der Küche wird es zwei Hähne geben: | |
| einen zusätzlichen für Soylent, den Drink aus Wasser, Öl und gut 40 | |
| Nährstoffen. Wer sich morgens, mittags und abends ein Glas zapft, der ist | |
| rundum versorgt, spart Zeit und Geld. In 20 Jahren könnte die | |
| Ernährungsrevolution vollzogen sein. | |
| Eine irre Vision? | |
| Rob Rhinehart arbeitet daran. Er hat sich den Drink namens Soylent | |
| ausgedacht. Als er auf die Idee mit der Brühe kam, war der 25-Jährige | |
| gerade als Softwareentwickler bei einem im kalifornischen Silicon Valley | |
| ansässigen Start-up-Unternehmen angestellt. Gedanken an Fortschritt und | |
| Optimierung, basale Bestandteile der „kalifornischen Ideologie“ waren ihm | |
| also vertraut. Fürs Kochen und Einkaufen unter der Woche fehlte ihm | |
| schlicht die Zeit. | |
| ## Soylent neu besetzen? | |
| So machte sich Rhinehart auf die Suche nach dem Gericht mit dem | |
| bestmöglichen Preis-Leistungs-Verhältnis. Seine Berechnungen führten ihn | |
| zunächst zu einer Pizzakette. Doch die Pizzen hingen ihm schnell zum Hals | |
| raus. Also entwickelte er Soylent. Geldgeber fand er schnell. Ab März wird | |
| das Pulver zum Anrühren in den Vereinigten Staaten vertrieben. Im Sommer | |
| soll es dann nach Europa kommen. | |
| Das genussvolle Essen wäre dann ein Luxus, den Rhinehart vor allem am | |
| Wochenende verortet. Da gönnt man sich dann mal die Zeit fürs ausgiebige | |
| Menü – vielleicht auch im Restaurant. | |
| Das alles klingt sehr nach Science Fiction. Und den Namen hat Rhinehart | |
| tatsächlich aus dem Film Soylent Green entliehen, der 1973 in die | |
| amerikanischen Kinos kam. | |
| Die Handlung ist in einem dystopischen New York des Jahres 2022 verortet. | |
| Die überbevölkerte und verarmte Stadt wird mit Soylent Green ernährt. Das | |
| vermeintlich synthetische Wundermittel entpuppt sich jedoch als aus | |
| Menschenfleisch gemacht. Am Ende rennt die Hauptfigur schreiend durch die | |
| Straße der Stadt: „Soylent Green is people!“ | |
| Rhinehart will den Begriff neu besetzt und aus einer Dystopie eine Utopie | |
| machen. | |
| ## Alles begann mit Margarine | |
| So abwegig das alles erst einmal wirkt: Könnte ein Drink wie Soylent nicht | |
| nur für gestresste Silicon-Valley-Bewohner hilfreich sein, sondern sogar | |
| helfen, den Hunger auf anderen Teilen der Erde zu bekämpfen? Wäre es | |
| vielleicht auch eine Möglichkeit, das Essen – das dann mehr einem Trinken | |
| gleicht - ökologisch-korrekter zu gestalten? | |
| Für die Titelgeschichte „Die Bauchentscheidung“ der [1][taz am Wochenende | |
| vom 25./26. Januar] hat sonntaz-Autor Sebastian Kempkens sich nicht nur mit | |
| Rob Rhinehart und seiner Vision beschäftigt. Er hat während seiner | |
| Recherchen auch einen der Erfinder der Diätmargarine in Hamburg getroffen. | |
| Da nämlich begann der Trend mit der Funktionalisierung des Essens. Kempkens | |
| verfolgt den Aufstieg der optimierten Margarine, den wissenschaftlichen | |
| Kampf um die Deutungshoheit über gesättigte und ungesättigter Fettsäuren, | |
| [2][der kürzlich wieder einen neuen Höhepunkt erreicht hat]. | |
| Das Bewusstsein für die eigene Ernährung wird immer größer. Eier und Milch | |
| kaufen viele beim Bio-Bauern. Sie meiden Emulgatoren und Weichmacher, | |
| verzichten auf Fleisch, leben vegan und versuchen die Ernährung effizienter | |
| zu gestalten. Und kaufen regelmäßig auch Produkte, die einen niedrigeren | |
| Cholesterienspiegel, eine schlankere Taille, mehr Energie oder eine bessere | |
| Haut versprechen. | |
| ## 5 Milliarden mit funktionalem Essen | |
| Für die Industrie ist das erst einmal ein gutes Geschäft. Nahrungsmittel, | |
| die als gesünder, fairer oder effizienter beworben werden, kosten mehr. | |
| Jährlich geben die Deutschen etwa 5 Milliarden Euro für Functional Food | |
| aus. Einem Durchschnittshaushalt, dessen Bewohner im Monat 312 Euro für | |
| Lebensmittel, Getränke und Tabakwaren zur Verfügung stehen, wird es | |
| unmöglich sein, bio zu essen, zu trinken und zu rauchen. Günstig hingegen | |
| sind Chips und Tiefkühlpizzen. | |
| Der Stuttgarter Spitzenkoch Vincent Klink bringt die Kritik an der | |
| Nahrungsmittelindustrie, die sich daraus ableiten ließe, folgendermaßen auf | |
| den Punkt: „Die haben uns erst mit Cola und Tiefkühlpizza dick gemacht und | |
| jetzt sagen sie uns, dass wir zu dick sind und jetzt fettfreie oder | |
| makrobiotische Lebensmittel essen sollen“. Mit Rob Rhinehart verbindet der | |
| Lustfreund wenig. | |
| Könnten Sie es sich vorstellen unter der Woche nicht mehr zu essen – und | |
| nur Soylent zu trinken? Ein völlig absurder Gedanke? Oder vielleicht doch | |
| ganz praktisch? Was würde Ihnen fehlen, wenn Sie Pasta, Pizza, Spätzle oder | |
| Tofu-Wiener nur noch am Wochenende bekämen? Wie sehr zerstört die | |
| Funktionalisierung des Essens jetzt schon den Genuss? | |
| Diskutieren Sie mit! | |
| Die ganze Geschichte „Die Bauchentscheidung“ lesen Sie in der [3][taz am | |
| Wochenende vom 25./26. Januar 2014]. | |
| 24 Jan 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ausgabe-vom-25/26-Januar-2014/!131614/ | |
| [2] http://www.theguardian.com/lifeandstyle/2013/oct/22/butter-cheese-saturated… | |
| [3] /Ausgabe-vom-25/26-Januar-2014/!131614/ | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Fleige | |
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