# taz.de -- Videospiele mit philosophischem Überbau: Trotzki im Weltall | |
> Knappes Personal, Überfälle fremder Mächte – und das alles in der | |
> stalinistischen Phase der Sowjetunion: Wer „Spacebase DF-9“ spielt, hat | |
> zu tun. | |
Bild: Ganz egal, ob die toten Kollegen noch herumliegen – die Arbeit auf der … | |
Sinowjew ist tot. Kamenjew auch. Smirnow, Bucharin, Rykow – alle tot. Die | |
einen niedergemetzelt von feindseligen Aliens, die anderen bei Unfällen | |
verbrannt, erstickt, erschlagen. Die überlebenden Bewohner [1][der | |
„Spacebase DF-9“] kümmert das nicht. Gleichmütig gehen sie ihrer | |
Beschäftigung als Techniker, Bergarbeiter oder Sicherheitsleute nach, | |
während die Leichen ihrer früheren Kollegen noch in den langen Korridoren | |
des Raumschiffs blutend herumliegen. | |
Nicht selten bieten Computerspiele die Möglichkeit, den Figuren Namen nach | |
eigenem Geschmack zu geben. Hier standen die Mitglieder der Führungsspitze | |
der bolschewistischen Partei Pate, starben doch auch sie unter dramatischen | |
Bedingungen – und zwar von Henkers Hand in der stalinistischen | |
Konsolidierungsphase der Sowjetunion. | |
„Spacebase DF-9“ ist die Welt eines Aufbauspieles für Windows PCs und Macs, | |
das in der sogenannten Early-Access-Phase Interessierten einen ersten | |
Einblick in das Projekt gibt. Und Interessierte gibt es so einige, nicht | |
nur an dieser Simulation. So markiert auch die Popularität des schwedischen | |
Spiels [2][„Rymdkapsel“] (diverse mobile OS, PCs und Playstation Mobile) | |
einen Trend. | |
Dem Spieltyp entsprechend ist die Ausgangslage prekär. Geringe Ressourcen, | |
wenig Personal und äußere Bedrohungen wie Überfälle fremder Mächte | |
verlangen ein expansionistisches Spielprinzip: mehr Leute anwerben, mehr | |
Industrien bauen, die Verteidigung stärken – und das möglichst zügig. | |
## „Die Menschen bleiben hinter der Technik zurück“ | |
Leo Trotzki, neben Stalin der letzte Überlebende des alten Politbüros, | |
wusste um die Probleme des Wirtschaftens unter solch drückenden äußeren | |
Umständen: „Dies fieberhafte Wachstum hat auch seine negativen Seiten; die | |
verschiedenen Elemente der Wirtschaft harmonieren nicht miteinander, die | |
Menschen bleiben hinter der Technik zurück. All das zusammen äußert sich in | |
ungemein hohen Gestehungskosten bei niedriger Produktionsqualität.“* | |
In der Spacestation hat wie überall das nackte Überleben absoluten Vorrang. | |
Lebensmittelreplikatoren, Energiebasis und Sauerstoffrecycler wollen | |
schnell installiert sein. Wenn aber schließlich genug Atemluft produziert | |
wird, was dann? Sozialismus im Weltraum? | |
Herr Trotzki? „Die historische Aufgabe besteht jedoch keineswegs darin, | |
nicht zu ersticken …, sondern eine machtvolle, ganz und gar rationelle | |
Wirtschaft zu schaffen, worin größtmögliche Zeitersparnis und infolgedessen | |
höchste Entfaltung der Kultur gewährleistet sind.“* | |
Nun gut, das Essen wird besser, es gibt bescheidene Unterhaltungsangebote, | |
und doch teilt die Statusanzeige der Namensvetter russischer Revolutionäre | |
häufig Stimmungslagen mit, die zwischen „irgendwie traurig“, „traurig“… | |
„tieftraurig“ (kinda sad, sad, deeply sad) changieren. | |
## Keine Option zur Revolte | |
Wie könnten sie auch anders fühlen? Gefangen irgendwo im All, permanent zum | |
Arbeiten gezwungen, dabei regiert von einer ihnen unzugänglichen Macht, ist | |
ihre Melancholie leicht nachvollziehbar. Die ökonomischen Erfolge des | |
Ganzen finden derweil keinen angemessenen Niederschlag im Alltag der | |
Figuren. | |
Das hat System, zumindest bei Trotzki: „Ein der Sowjetindustrie eigenes | |
Gesetz kann man so formulieren: das Erzeugnis ist in der Regel umso | |
schlechter, je näher es dem Massenverbraucher ist.“* Dass das Spiel dem | |
„Verbraucher“ dabei keine Option zur Revolte einräumt, ist zutiefst unfair | |
und – unrealistisch. | |
Generell haben jene Spiele eine entscheidende Schwäche, in denen der | |
Spieler selber keine angreifbare Repräsentation in der virtuellen Welt hat: | |
Sie sind im ideellen Kern unrealistisch und werden somit schnell | |
uninteressant: Jede noch so fantastische Welt muss Lebendigkeit abbilden | |
können und nicht nur triviale Buntheit. Schon in der ersten Version des | |
legendären Spiels „Simcity“ musste sich der Bürgermeister der öffentlich… | |
Meinung seiner virtuellen Stadt stellen, die sich im Zweifelsfalle auch mit | |
Brandschatzung, Mord und Totschlag Bahn brach. So etwas motiviert den | |
Spieler. | |
## Am Ende der Geschichte seiner Welt | |
Ist er hingegen nicht nur unsterblich, sondern nicht einmal in der | |
Spielwelt „anwesend“ – wie viel Herzblut kann er entwickeln für die | |
Pixelhaufen, deren Wohl und Wehe ihm dort anvertraut sind? Sie sind dann | |
austauschbare Verschiebemasse einer mehr oder weniger herausfordernden | |
Übung im Durchschauen rein mechanischer Abläufe der Programmierung. Der | |
Spieler kann so (im besten Fall) seine Repräsentation als die Raumstation | |
selbst finden, was beim Beispiel „Rymdkapsel“ mit seiner minimalistischen | |
Gestaltung gewolltes Spielprinzip ist. | |
Die Figuren sind dann willenlose Handlanger in einer totalitär | |
organisierten Welt, analog zur stalinistischen Verschmelzung von Staat und | |
Regierung. Selbst wenn der Spieler den Wunsch haben sollte, ein politisches | |
Experiment zu wagen, scheitert er stets an der unterkomplexen und völlig | |
linearen Spielführung und der eigenen Unantastbarkeit. Hoffentlich wissen | |
das die Entwickler von „Spacebase DF-9“ und haben für die Betaversion und | |
den letztendlichen Release noch ein paar interessante Ideen auf Lager, die | |
den Figuren eigenständiges Leben einhauchen. Das freut dann auch den | |
Trotzki. | |
„Der Sozialismus ist undenkbar ohne Selbsttätigkeit der Massen, ohne | |
Aufblühen der menschlichen Persönlichkeit.“** Und das anregende Aufbauspiel | |
ist nicht denkbar ohne die Möglichkeit des Scheiterns am Widerstand der | |
„Masse“. Gibt es dann noch nicht einmal ein konkret formuliertes Spielziel, | |
wie zum Beispiel das Erreichen einer bestimmten Produktivität oder | |
Bevölkerungszahl, befindet sich der Spieler von der ersten Minute an am | |
Ende der Geschichte seiner Welt. Leben, Sterben, einerlei. Irgendwie | |
traurig. | |
Zitate: Leo Trotzki, *„Verratene Revolution“, **„Stalins Verbrechen“ | |
Update: Zahlreichen Hinweisen aus der Bevölkerung, dass im Namen der | |
Spacestation eine Kopplung fehle (also DF-9, nicht DF9) ist die | |
Kontrollkommission nachgegangen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der | |
Einwand seine Berechtigung habe. Nach ausführlichen Beratungen mit der | |
Zentralen Plankommission hat diese eine größere Anzahl Bindestriche aus dem | |
Reservevorrat freigegeben, und damit den Helden der Arbeit die Möglichkeit | |
eröffnet, diese an geeigneter Stelle einzufügen. Das ist inzwischen | |
geschehen, und so dürfen wir mit Stolz vermelden, dass auch hier der Plan | |
zu mindestens 114 Prozent übererfüllt ist. | |
Update 2: Weitere Eingaben unserer Menschen weisen darauf hin, dass die | |
Spacestation gar keine Spacestation, sondern eine Spacebase sei. Nach | |
eingehender Prüfung konnte auch dieser Sachverhalt bestätigt werden. Die | |
Mitglieder von Kontroll- und Zentraler Plankommission sind wegen | |
konterrevolutionärer Umtriebe in einen längeren Zyklus von Kritik und | |
Selbstkritik überführt worden. | |
2 Feb 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://spacebasedf9.com/ | |
[2] http://rymdkapsel.com/ | |
## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
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