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# taz.de -- Leipziger Buchpreis für Pankaj Mishra: Der globalisierte Intellekt…
> „Auf den Ruinen des Empires“ heißt das jüngste Werk des indischen Autors
> Pankaj Mishra. Dafür wird er jetzt auf der Leipziger Buchmesse
> ausgezeichnet.
Bild: Diesjähriger Preisträger: Pankaj Mishra.
Der Inder Pankaj Mishra erhält den Buchpreis zur Europäischen Verständigung
und das ist gut so, auch wenn Mishra noch nie explizit etwas zu Europa
veröffentlicht hat. Kontinentaleuropa ist längst nicht mehr eine gegen Ost
und West abgeschottete Insel, sondern droht eher zu einem Museum in einem
dynamischen Globalisierungsprozess zu werden, wenn es sich nicht mehr für
Migranten aus aller Welt öffnet.
Zu diesen Zuwanderern gehören neue globalisierte Intellektuelle. Sie
verharren nicht mehr entfremdet und frustriert in ihren
Herkunftsgesellschaften oder streben einflussreiche Positionen im Westen
an, sondern suchen ihre Erfahrung „in Einsicht und Wissen zu verwandeln“,
wie Pankaj Mishra 2011 in der Einleitung zu seinem Buch „Lockruf des
Westens. Modernes Indien“ programmatisch schrieb.
Die Verleihung des Preises für Europäische Verständigung an einen Autor wie
Pankaj Mishra bedeutet einen Schritt zur Entprovinzialisierung der
kontinentaleuropäischen, speziell der deutschen Debatte. Im vergangenen
Jahr erschien von ihm bei S.Fischer „Aus den Ruinen des Empires. Die
Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“. Bis dahin waren
seine Arbeiten nur von Spezialisten wahrgenommen worden. In Gesellschaften,
die sich mit der ethnisch heterogenen Struktur ihrer Bevölkerung weniger
schwer tun als die deutsche, ist das Oeuvre Pankaj Mishras längst bekannt
und seine Stimme oft in den angesagtesten Medien zu hören.
Nicht nur symbolisch, sondern real sind im kurzen 20. Jahrhundert von 1917
bis 1990, dem short century, die angloamerikanischen Gesellschaften aus den
Ruinen des Empires hervorgegangen. Aus dem Niedergang der englischen
Weltmacht und dem Aufstieg der USA hat sich ein Bild des Westens gerade zu
einer Zeit der Dekolonialisierung ergeben, das gar nicht in die
Ost-West-Dichotomie des kalten Krieges passte. Den Provinzialismus
Kontinentaleuropas, speziell Deutschlands, kennzeichnet ein die Welt
verzerrendes Selbstverständnis, während des short centurys immer im
Mittelpunkt der Weltgeschichte gestanden zu haben. Mit den Augen Mishras
sieht aber die Welt ganz anders aus.
## Blick ohne Zentrismus
Mishras Stärke besteht darin, nicht den eurozentrischen Blick durch einen
sinozentrischen oder indozentrischen zu ersetzen. Mishra lebt in beiden
Welten, er kennt Angloamerika wie Indien. Das Catchword „Identität“ wird
nicht als Pfund benutzt, mit dem man intellektuell wuchern kann. Das kann
der Diskussion nur nützen in einer Zeit, in der das Schlagwort von der
„einzig verbliebenen Supermacht“ vor unseren Fernsehgeräten gerade so zur
Phrase wird wie der Satz „Europa muss mit einer Stimme sprechen“ zum leeren
Postulat. Schon die angebliche „Wertegemeinschaft des Westens“ war von
Beginn an eine Fiktion, die nun aber in aller Weltöffentlichkeit
zerbröselt.
Der Kritiker dieser Ideologien muss nicht automatisch ein Lobredner des
Ostens sein, der selbst keineswegs homogen strukturiert ist. Ein Blick auf
den indischen Subkontinent und die ihn begrenzende Bergwelt genügt. Man
kann nur hoffen, dass Mishras jüngstes Buch „A Great Clamour: Encounters
with China and Its Neighbours“ (2013) schnell einen deutschen Verleger
findet. Indien kann man nicht ohne China verstehen – Europa ohne beide
nicht. Die Leipziger Preisverleiher haben ganz richtig gehandelt. In
Angloamerika und Indien ist Mishra schon mit Preisen überhäuft worden. Auch
dabei hinkt Europa hinterher.
Mishra wurde 1969 im nordindischen Staat Uttar Pradesh geboren, dem mit 200
Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesstaat Indiens und damit
der einwohnerstärksten subnationalen Entität der Welt. 1982 verschlug es
ihn nach Mashobra, ein kleines Dorf im Himalaja. Von dort aus begann er
seine literarisch-politischen Entdeckungsreisen des Subkontinents.
## Nichtidentische Existenz
„Butter Chicken in Ludhiana: Travels in Small Town India“ hieß sein 1995
erschienenes erstes Buch. Bald darauf versuchte er sich in fiktiver
Literatur: „The Romantics“ (1999), das die Leser in die Welt von Benares
führt. Mit Benares beginnt auch seine Rückkehr ins nicht-fiktive Schreiben:
„Temptations of the West. How to Be Modern in India, Pakistan, Tibet, and
Beyond“ (2006), das – thematisch auf Indien beschränkt – bei Berenberg a…
„Lockruf des Westens“ (2011) auf Deutsch erschienen ist.
Das autobiographische erste Kapitel dieses Buches, „Lesen lernen“, führt in
die Welt einer legendären indischen Stadt mitten im Chaos des Jahres 1988,
also kurz vor Ende des short century. In den verstaubten Regalen entdeckt
Mishra Edmund Wilson und auf der Universität die „radikale Politik“
indischer Studenten. Aus Edmund Wilsons Flaubert-Essay zitiert Mishra
affirmativ eine Bemerkung über die „Erziehung des Herzens“, die für sein
eigenes Werk gelten kann: „Um das Buch richtig würdigen zu können, muss man
Zeit gehabt haben, etwas vom Leben zu sehen.“
Diese Zeit hat sich Mishra genommen. Er hat Lehr- und Wanderjahre in den
Akademien des Westens und ihren publizistischen Institutionen verbracht;
nein, er ist auch Teil von ihnen geworden, ohne völlig absorbiert zu
werden. Die exzentrische Wohnortwahl, London, UK und Mashobra, Himachal
Pradesh deutet auf das Nichtidentische einer Existenzweise hin, in der die
Kraft des Erkennens angelegt ist.
## Einheit in Verschiedenheit
Mishra selbst lebt in den Ruinen des Empires; er kennt sie von beiden
Endpunkten her. So fällt sein kritischer Blick nicht nur auf England und
den Westen, sondern auch auf Indien und China. In einer wortstarken
Auseinandersetzung mit dem Star der englischsprachigen politischen
Essayistik, Perry Anderson, dessen kritische „Indische Ideologie“ 2013
Furore gemacht hat und ebenfalls bei Berenberg soeben auf Deutsch
erschienen ist, kritisiert Mishra den marxistischen Rationalismus, der das
aus dem Kalten Krieg hervorgegangene Indien ebenso zu monolithisch sieht
wie das aus dem Maoismus hervorgewachsene ökonomisch boomende China.
Es geht nicht nur darum, die Welt wahrzunehmen, wie sie sich verändert hat,
sondern auch sich zu verabschieden von eurozentrischen normativen
Vorstellungen der Moderne, denen weder Indien noch China entspricht – aber
bei näherer Betrachtung gilt dies für den Westen ebenso. Die Verleihung des
Buchpreises zur Europäischen Verständigung an den Inder Pankaj Mishra
könnte man daher auch als Anstiftung zur kritischen Selbstreflexion Europas
verstehen.
Wenn das Schlagwort „Globalisierung“ mehr sein soll als ein Füllwort für
Festreden, dann muss das intellektuelle Bewusstsein von der Einheit der
Welt in Verschiedenheit geschärft werden, das im vagen Alltagsbewusstsein,
begleitet von ambivalenten Gefühlen, von Xenophobie und Hoffnung, von
Zukunftsangst und Aufbruchstimmung, längst vorhanden ist.
Wenn die Gegenwart unübersichtlich wird, muss man zwei Schritte
zurückgehen, um einen Durchblick zu bekommen. Mit „Aus den Ruinen des
Empires“ hat Pankaj Mishra eine Mischung aus intellectual history und
Essayistik gefunden, die zwischen Journalismus und Wissenschaft vermitteln
könnte. Eine adäquate kritische Theorie der Gegenwart kann sein Werk
allerdings nicht ersetzen; aber die veränderte Wahrnehmung ist eine
notwendige Voraussetzung zur Verwandlung von Erfahrung in Erkenntnis.
12 Mar 2014
## AUTOREN
Detlev Claussen
## TAGS
Schwerpunkt Syrien
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