| # taz.de -- Debatte Gesetzlicher Mindestlohn: Jugend ohne Geld | |
| > Ausnahmen vom Mindestlohn für Jugendliche sind altersdiskriminierend: | |
| > Unternehmen könnten gezielt ältere durch jüngere Arbeitnehmer ersetzen. | |
| Bild: Ein Ausnahmeantrag folgt dem nächsten: Dürfen bald Jugendliche unter Mi… | |
| Die Debatten um den gesetzlichen Mindestlohn nehmen in den letzten Wochen | |
| immer seltsamere Züge an. Beinahe täglich melden sich neue wirtschaftliche | |
| Lobbygruppen zu Wort, um für ihre jeweilige Klientel Ausnahmen von der | |
| geplanten Mindestlohnregelung einzufordern. | |
| Umso bemerkenswerter ist es, dass sich Bundesarbeitsministerin Andrea | |
| Nahles von all dem bisher wenig beeindruckt zeigt. Konsequent hat sie den | |
| diversen Ansinnen für Ausnahmen eine Absage erteilt – mit dem Hinweis, dass | |
| der Mindestlohn nicht zum „Schweizer Käse“ werden dürfe. | |
| In einem Punkt scheint Nahles nun dem politischen Druck der | |
| Mindestlohngegner nachzugeben. So sollen Jugendliche unter 18 Jahren vom | |
| Mindestlohn ausgenommen werden. Zwar folgt die Arbeitsministerin auch hier | |
| nicht vollständig den Forderungen der Wirtschaftsverbände, die am liebsten | |
| gleich alle unter 25-Jährigen, zumindest jedoch alle unter 21-Jährigen vom | |
| Mindestlohn ausnehmen möchten. | |
| Zugleich wird jedoch erstmals vom Grundsatz eines universellen Mindestlohns | |
| für alle Arbeitnehmer abgewichen und damit über die eng definierten Grenzen | |
| des Koalitionsvertrags hinaus der Weg für weitere Ausnahmeregelungen frei | |
| gemacht. | |
| ## Ausgerechnet die Jugend? | |
| Warum also ausgerechnet die Jugend? Es sind im Wesentlichen zwei Argumente, | |
| mit denen legitimiert wird, warum junge Beschäftigte in puncto Mindestlohn | |
| eine Sonderregelung erfahren sollen. Erstens geht es um das Risiko eines | |
| Beschäftigungsverlusts. Da Jugendliche naturgemäß über eine geringere | |
| Berufserfahrung verfügen, wird ihnen generell auch eine geringere | |
| Produktivität unterstellt. Bei einem Mindestlohn würde sich demnach die | |
| Beschäftigung von Jugendlichen für viele Unternehmen nicht mehr rechnen. | |
| Zweitens wird die Befürchtung geäußert, dass ein Mindestlohn für | |
| Jugendliche einen Anreiz bilden könnte, auf eine schlechter dotierte | |
| Ausbildung zu verzichten und stattdessen einen besser bezahlten Aushilfsjob | |
| anzunehmen. Dieses Argument hat sich nun auch Andrea Nahles zu eigen | |
| gemacht und zur Begründung für die beabsichtigte Ausnahmeregelung für unter | |
| 18-Jährige angeführt. | |
| Hinzu kommt, dass einige europäische Nachbarländer für junge Beschäftigte | |
| ebenfalls spezielle Jugendmindestlöhne eingeführt haben, die teilweise | |
| erheblich unterhalb des Standardmindestlohns für Erwachsene liegen. Ob von | |
| diesen speziellen Jugendmindestlöhnen jedoch tatsächlich ein positiver | |
| Effekt auf die Ausbildungs- und Beschäftigungssituation junger Menschen | |
| ausgeht, ist höchst umstritten. | |
| Neuere Studien gehen eher davon aus, dass es auch bei Jugendlichen kaum | |
| einen Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und Beschäftigungsniveau gibt. So | |
| ist die derzeit extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen | |
| Ländern in erster Line das Ergebnis einer tiefgreifenden anhaltenden | |
| Wirtschaftskrise. Hinzu kommen strukturelle Faktoren, die vor allem mit | |
| Problemen im Ausbildungssystem zusammenhängen. Der Mindestlohn hat | |
| demgegenüber – wenn überhaupt – nur eine sehr nachrangige Bedeutung. | |
| ## Teenies an der Kasse | |
| Die Erfahrungen einiger europäischer Länder deuten zudem darauf hin, dass | |
| mit speziellen Jugendmindestlöhnen auch neue Probleme auf dem Arbeitsmarkt | |
| entstehen können. So erhalten Unternehmen einen Anreiz, gezielt ältere | |
| durch jüngere Arbeitnehmer zu ersetzen. | |
| In den Niederlanden sind beispielsweise mehr als die Hälfte aller | |
| Beschäftigten in Supermärkten jünger als 23 Jahre und liegen damit unter | |
| der Altersschwelle, ab der der volle Mindestlohn gezahlt werden muss. Mit | |
| dem Erreichen dieser Altersgrenze verlieren jedoch viele der von vornherein | |
| nur befristet beschäftigten Jugendlichen ihren Job, da mit dem Übergang zum | |
| Erwachsenenmindestlohn eine erhebliche Lohnsteigerung einhergeht. | |
| Zur Frage der möglichen Auswirkungen eines Mindestlohns auf die | |
| Ausbildungsbereitschaft von Jugendlichen existieren nur wenige Studien, was | |
| für sich schon darauf hindeutet, dass hier in der Praxis nicht unbedingt | |
| ein großes Problem gesehen wird. Eine jüngere Studie aus Großbritannien, | |
| die im Auftrag der britischen Low Pay Commission durchgeführt wurde, kommt | |
| eindeutig zu dem Ergebnis, dass hier keine negativen Effekte des | |
| Mindestlohns feststellbar sind. | |
| Das Bestreben von Jugendlichen, eine Berufsausbildung zu machen, unterliegt | |
| offensichtlich stets einer ganzen Reihe von ökonomischen, sozialen und | |
| kulturellen Einflüssen. Es lässt sich aus diesem Grund nicht auf einzelne | |
| Faktoren – wie etwa die Höhe der Löhne – zurückführen. | |
| ## Und das Verfassungsgericht? | |
| Schaut man nun auf die Arbeitsmarktsituation von Jugendlichen in | |
| Deutschland, so sind derzeit mehr als drei Viertel aller Jugendlichen unter | |
| 25 Jahren entweder Schüler und Studierende oder machen eine Ausbildung. Bei | |
| den unter 20-Jährigen sind es sogar mehr als 90 Prozent. Demgegenüber gehen | |
| lediglich 5 Prozent aller Jugendlichen unter 20 Jahren einer Erwerbsarbeit | |
| nach. | |
| Betrachtet man schließlich lediglich diejenigen Jugendlichen unter 18 | |
| Jahren, die ohne Berufsausbildung in einem sozialversicherungspflichtigen | |
| Beschäftigungsverhältnis stehen, so reduziert sich ihr Anteil auf etwas | |
| mehr als ein Prozent. Die Neigung von Jugendlichen, anstelle einer | |
| Ausbildung lieber schnell einen besser bezahlten unqualifizierten Job | |
| anzunehmen, ist also in Deutschland offensichtlich nicht besonders | |
| ausgeprägt. Die Einführung eines auch nicht gerade üppigen Mindestlohns von | |
| 8,50 Euro dürfte daran kaum etwas grundlegend ändern. | |
| Die nun von Andrea Nahles vorgeschlagene Ausnahmereglung für unter | |
| 18-Jährige trifft also in erster Linie Schüler, die sich zumeist in Form | |
| eines Minijobs etwas dazuverdienen. Sie stellt zugleich eine offene Form | |
| der Altersdiskriminierung dar, die gegen das allgemeine | |
| Gleichbehandlungsprinzip verstößt. | |
| Erlaubt ist eine solche Diskriminierung aus verfassungs- und | |
| europarechtlicher Sicht grundsätzlich nur dann, wenn damit mögliche | |
| Nachteile am Arbeitsmarkt vermieden werden können. Ob die Ausnahmeregelung | |
| für Jugendliche einen solchen Tatbestand erfüllt, ist allerdings mehr als | |
| zweifelhaft. | |
| 23 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Thorsten Schulten | |
| ## TAGS | |
| Mindestlohn | |
| Jugendliche | |
| Jugendarbeitslosigkeit | |
| Mindestlohn | |
| Mindestlohn | |
| Mindestlohn | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| Die Linke | |
| Lohnuntergrenze | |
| Psychische Belastungen | |
| Mindestlohn | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Jugendarbeitslosigkeit in Europa: Kinder der Krise | |
| Jeder fünfte unter 25-Jährige ist in Südeuropa ohne Job. Drei von ihnen | |
| haben wir besucht, in Madrid, Rom und Athen. | |
| Ehrmann unterliegt vor EU-Gerichtshof: Von wegen Milch | |
| Hat sich Ehrmann mit dem Quark-Werbespruch „So wichtig wie das tägliche | |
| Glas Milch“ zu weit vorgewagt? Genutzt wird er auf den Packungen jedenfalls | |
| nicht mehr. | |
| Koalitionsstreit um Mindestlohn: Ausnahme für Langzeitarbeitslose | |
| Bundesarbeitsministerin Nahles hat einem Kompromiss im Streit um den | |
| Mindestlohn zugestimmt. Langzeitarbeitslose werden sechs Monate davon | |
| ausgenommen. | |
| Gutachten zum Mindestlohn: Altersgrenze kann heikel werden | |
| Am Mittwoch will das Kabinett den Mindestlohn beschließen. Nicht jedoch für | |
| minderjährige Arbeitnehmer. Ein DGB-Rechtsgutachten hält das für | |
| unzulässig. | |
| Pro & Contra Mindestlohn für Praktikanten: Unbezahlbar, unbezahlt | |
| Mindestlohn für Praktikanten nur in Ausnahmefällen: Eine Farce? Oder die | |
| richtige Entscheidung? Zwei taz- Praktikantinnen debattieren. | |
| 100 Tage Große Koalition: Geht das gut? | |
| Merkel wägt gerne ab, ist vorsichtig und nüchtern. Gabriel prescht gerne | |
| vor, ist impulsiv und emotional. Trotz allem haben sie einiges gemeinsam. | |
| Linke gegen Mindestlohn-Altersgrenze: Notfalls bis zum Verfassungsgericht | |
| Die Kritik an den Mindestlohnplänen von Arbeitsministerin Nahles reißt | |
| nicht ab. Die Linke will dagegen notfalls sogar vor Gericht ziehen. | |
| Mindestlohn kommt fast ohne Ausnahme: Kein Flickenteppich | |
| Die SPD setzt sich bei Lohnuntergrenze weitgehend durch. Ausgenommen sind | |
| nur sehr wenige Gruppen, darunter Jugendliche unter 18 Jahren. | |
| Stress am Arbeitsplatz: Ministerin unter Druck | |
| Gewerkschaften fordern eine Anti-Stress-Verordnung. Ob sie kommt, ist | |
| fraglich. Arbeitsministerin Nahles hat selbst genug Stress – mit den | |
| Arbeitgebern. | |
| Neuer CDU-Vorschlag zum Mindestlohn: 8,50 Euro erst ab 25 | |
| Die CDU plant, 8,50 Euro pro Stunde erst für über 25-Jährige zu zahlen. | |
| Zuvor hatte SPD-Arbeitsministerin Nahles 18 als Altersgrenze vorgeschlagen. | |
| Ungleicher Lohn für gleiche Arbeit: Staatliches Lohndumping | |
| Wer die kommunalen Kliniken putzt, bekommt heute teilweise nicht mal den | |
| Mindestlohn. Das soll sich zwar ändern, doch die Benachteiligung wird | |
| weitergehen. |