# taz.de -- Studenten revoltieren in Taiwan: Maidan in Taipeh | |
> Wie ein geheim ausgehandeltes Abkommen mit China eine neue | |
> Demokratiebewegung auslöst: Studenten protestieren gegen den Ausverkauf | |
> der Insel. | |
Bild: Gegen chinesische Dominanz: Protest in Taipeh | |
TAIPEH taz | „Wenn Diktatur Realität ist, ist Revolution Pflicht“: Noch | |
immer schmückt das Graffito die Stirnseite des Parlaments in der | |
taiwanischen Hauptstadt Taipeh, und noch immer flattert die Nationalflagge | |
kopfüber auf dem Gebäude. Das Symbol der Bewegung, eine Sonnenblume, | |
befindet sich direkt über dem Haupteingang – selbst gebastelt, etwa einen | |
Meter breit. | |
Seit zwei Wochen herrscht in Taipeh Ausnahmezustand. Hunderte Studenten | |
halten seit dem 19. März aus Protest gegen ein Freihandelsabkommen mit | |
China das Parlament besetzt, gleichzeitig versammeln sich Tausende rund um | |
die Uhr trotz Kälte und Regen, um sich mit den Demonstranten zu | |
solidarisieren. Die Insel Taiwan, vor der Küste Chinas gelegen, erlebt die | |
größte Studenten- und Bürgerbewegung seit der Demokratisierung vor über | |
zwanzig Jahren. | |
„Die Studenten Taiwans haben Peking einen Riegel vorgeschoben, es läuft | |
nicht mehr nach dem Drehbuch der KP und Kuomintang“, sagte der renommierte | |
Politikwissenschaftler Wu Jieh-min von der Academia Sinica und meint damit | |
die mächtige Kommunistische Partei des großen Bruders China und die | |
Regierungspartei von Taiwans Präsident Ma Ying-jeou. | |
Stein des Anstoßes ist ein Abkommen, das der Präsident bereits im Sommer | |
dieses Jahres in Kraft treten lassen will: Es soll die | |
Wirtschaftsbeziehungen zwischen den 23 Millionen Taiwanern und den 1,34 | |
Milliarden Bewohnern der Volksrepublik noch enger gestalten. Chinesische | |
Firmen dürfen dann in 64 Branchen des Dienstleistungssektors von Taiwan | |
freier als bisher investieren. Taiwanische Firmen sollen verbesserten | |
Zugang zu 80 Branchen in China erhalten. | |
Viele kleinere Unternehmen Taiwans fürchten aber, der Konkurrenz großer | |
Staatsfirmen aus China nicht standhalten zu können, und in der Bevölkerung | |
wächst die Sorge, durch die wirtschaftliche Annäherung von dem großen | |
Nachbarn geschluckt zu werden. Was die Kritiker besonders ärgert: Das | |
Abkommen ist unter Ausschluss der taiwanischen Öffentlichkeit verhandelt | |
worden. Seitdem versuchte die Regierung, das Abkommen durch das Parlament | |
zu peitschen, im Gegenzug wuchs die Protestwelle an. | |
## Autokratische Tendenzen des Präsidenten | |
Seit Präsident Ma vor sechs Jahren mit dem Versprechen, die Beziehungen zur | |
Volksrepublik China zu verbessern, an die Macht kam, ist die autokratische | |
Tendenz seiner Regierung unübersehbar. Viele Bewohner der Insel erinnern | |
sich an die alte Zeit bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre, als die | |
Kuomintang noch diktatorisch herrschte. Die Todesstrafe, die später – unter | |
der Regierung der heute oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei | |
DDP – ausgesetzt war, wird jetzt unter Ma wieder vollzogen. Auf die Medien | |
Taiwans kann Peking inzwischen direkt Einfluss nehmen, denn hinter vielen | |
Verlagen stecken Geschäftsleute, die in China bestens vernetzt sind. | |
Präsident Ma hat seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2008 rund 20 Abkommen | |
mit Peking unterzeichnet. Seine Bemühungen um ein gutes Verhältnis zur | |
chinesischen Regierung, das unter seinem Vorgänger höchst gespannt war, | |
wurden international ebenso wie von vielen Taiwanern selbst begrüßt. | |
Aber nun haben viele Taiwaner Angst, ihre Freiheit und Selbstständigkeit zu | |
verlieren. Das geplante Abkommen könnte die ohnehin schon starke | |
wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von China nur verstärken. | |
Trotzdem ignorierte Ma, dessen Beliebtheit bei Umfragen mittlerweile nur | |
noch neun Prozent erreicht, die Kritik der Opposition. | |
## Geheime Agenda der Wiedervereinigung | |
In diesem Klima blühen Gerüchte, die ihm eine geheime Agenda der | |
Wiedervereinigung mit China unterstellen. Das umstrittene | |
Freihandelsabkommen diene als Geschenk an Peking vor einem möglichen | |
Treffen mit dem chinesischen Staatspräsident Xi Jinping in diesem Herbst. | |
Je intensiver Ma das Abkommen durchsetzt, desto mehr Taiwaner fühlen sich | |
hintergangen, der Ruf gegen den „Ausverkauf Taiwans an China“ wurde spürbar | |
immer lauter. | |
Nur damit ist es zu erklären, warum die protestierenden Studenten so viel | |
Zuspruch von der Bevölkerung bekommen und bis heute durchhalten, das | |
Parlament zu besetzen: „Hinterzimmerabkommen zurückweisen, Demokratie | |
verteidigen“ lautet das Motto, „Mechanismus schaffen zur Überwachung der | |
Abkommen zwischen Taiwan und China“ ist die Kernforderung. | |
Der Studentenführer Chen Wei-Ting, erst 24 Jahre alt, sagte: „Das Parlament | |
ist schon seit Langem gelähmt. Wir kommen nicht, um das Parlament | |
lahmzulegen, sondern um unsere demokratischen Werte zu retten.“ | |
## Vorlesungen für alle unter freiem Himmel | |
Rund um das Parlamentsgebäude entstand so eine Protestbewegung, die alle | |
Schichten der Gesellschaft erfasst hat und ohnegleichen ist in der jungen | |
Demokratie: Die einfachen Bürger unterstützen mit Sachspenden, Journalisten | |
unterstützen durch Reportagen. Mehr als vierhundert Rechtsanwälte bilden | |
das Verteidigerteam, die Nichtregierungsorganisationen helfen bei der | |
technischen Ausstattung. | |
Nie zuvor in Taiwan ist die Zivilgesellschaft so aktiv gewesen, die | |
Opposition spielt dabei nur eine Nebenrolle. Tausende Studenten übernachten | |
unter freiem Himmel, die Professoren halten Vorlesungen zu Themen wie „Die | |
Beziehung zwischen Taiwan und China“, „Was heißt ziviler Ungehorsam“, �… | |
sind unsere Werte“ auf den Straßen, eine Art offene Universität wie | |
kürzlich auf dem Maidan in Kiew. | |
Die Protestbewegung ist weitgehend friedlich, Veranstaltungen wie | |
Filmvorführungen und Popkonzerte sind bestens organisiert. Die Studenten | |
gewinnen durch die sozialen Netzwerke wie Facebook und selbst erstellte | |
Videoclips immer mehr Sympathie, vor allem bei der jüngeren Generation, die | |
das Abkommen als Gefahr für ihre Arbeitschance und als Verlust des | |
freiheitsliebenden Lebensstils wahrnimmt. | |
## „Der Sonnenaufgang auf der Insel“ | |
Obwohl die Besetzung des Parlaments die Politik zum Stillstand bringt, | |
unterstützt die Mehrheit der Bevölkerung unterdessen die Bewegung. | |
Dreiviertel ist nach der Umfrage von Taiwan Indicator Survey Research der | |
Meinung, dass die Regierung das Abkommen zurückziehen soll. Viele meinen | |
sogar, die Studenten debattieren so gewissenhaft und leidenschaftlich in- | |
und außerhalb des Parlaments über die Vor- und Nachteile des Abkommens, | |
ohne der Parteipolitik folgen zu müssen, das besetzte Parlament sei doch | |
demokratischer denn je. | |
Bei der Kundgebung am letzten Wochenende vor dem Präsidentenpalast sind | |
sogar mehr als eine halbe Million Studenten und Bürger aller Schichten | |
gekommen. Das war eine der größten Demonstrationen, die Taiwan je gesehen | |
hat. Alle Anwesenden trugen schwarze Hemden – das soll verdeutlichen, wie | |
ernsthaft die Demokratie sich in der Krise befindet. Gleichzeitig stimmten | |
sie das Lied der Bewegung „Der Sonnenaufgang auf der Insel“ an und blicken | |
optimistisch in die Zukunft. | |
Was macht Peking angesichts der explosionsartigen Dynamik der Demokratie in | |
Taiwan? Anders als die bisherigen Versuche, sich entweder durch befreundete | |
Unternehmer und Politiker in die Innenpolitik Taiwans einzumischen, hält | |
sich die chinesische Führung diesmal äußerst zurück. Der für April geplante | |
Besuch des Leiters des Büros für Taiwan-Angelegenheiten wurde abgesagt – | |
weitere Gespräche zwischen Taiwan und China müssen aufgeschoben werden, bis | |
die Lage sich beruhigt. | |
## Jung, kreativ, eigenwillig und frech genug | |
Der ohnehin schon unbeliebte Ma, der sich in der Chinapolitik offenbar zu | |
weit aus dem Fenster gelehnt hat, befindet sich in einer tiefen | |
Legitimitätskrise. Die Studenten haben angekündigt, die Besetzung | |
fortzusetzen, bis er nachgibt. | |
Momentan kann niemand den Ausgang voraussagen, aber die Protestbewegung hat | |
zweifellos schon enorme Kraft freigesetzt, die Rede ist von der | |
Sonnenblumengeneration – jung, kreativ, eigenwillig und frech genug, um die | |
verkrusteten Strukturen aufzubrechen – wie einst die Grünen in Deutschland. | |
Diese Entwicklung stellt überdies einen Wendepunkt in der Beziehung | |
zwischen Taiwan und China dar. | |
Viele in Taiwan sind wachgerüttelt und haben inzwischen verstanden: Das ist | |
eine Wahl zwischen Demokratie und Diktatur. Ein Abkommen mit China ohne | |
transparentes Verfahren zu blockieren, ist vielleicht ihre letzte Chance, | |
sich gegen die Diktatur zu wehren. „Wir sind nicht gegen China, aber das | |
Volk ist berechtigt, die Chinapolitik mitzubestimmen“, lautet der Tenor der | |
Studenten, und sie erteilen der schleichenden Einvernahme durch China eine | |
Absage. | |
Wenn man sieht, wie viele Studenten und Vertreter der Zivilgesellschaft aus | |
Hongkong, das seit 1997 wieder zur Volksrepublik gehört, in den letzten | |
Tagen nach Taiwan reisten, um sich von der Protesterfahrung inspirieren zu | |
lassen, kann man die Bedeutung der Sonnenblumenbewegung für China nicht | |
hoch genug einschätzen. | |
4 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Lin Yu-Li | |
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