# taz.de -- Geschichtsbilder in der Ukraine: Der Krieg um den Krieg | |
> Am 9. Mai drohen Konflikte zwischen ukrainischen Nationalisten und | |
> prorussischen Kräften. Denn das Land ist erinnerungspolitisch gespalten. | |
Bild: Für viele ein Nationalheld: Am 1. Januar 2014 feiern Ukrainer in Kiew de… | |
BERLIN taz | Die Gewalt in der Ukraine eskaliert. Sie frisst sich wie Säure | |
in die soziale Textur und zerreißt in manchen Orten das selbstverständliche | |
Vertrauen, dass man im Alltag nichts Lebensbedrohliches zu befürchten hat. | |
Geschichte ist umkämpftes Terrain in dem drohenden Bürgerkrieg. Gerade am | |
9. Mai, gerade auf dem Gebiet der Ukraine, das von 1930 bis 1945 von einem | |
Gewaltorkan heimgesucht wurde, der mannigfache Traumatisierungen | |
hinterlassen hat. Nach 1939 war die Ukraine Schauplatz der in dieser Region | |
besonders brutalen deutschen Kriegsführung. | |
Anfang der 30er Jahre fielen drei Millionen vor allem ukrainische | |
Zivilisten einer vom stalinistischen Terrorsystem künstlich verstärkten | |
Hungersnot zum Opfer. In der Sowjetunion wurde dieses Verbrechen | |
verschwiegen. Ukrainische Historiker tauften es in den 90er Jahren | |
„Holomodor“, übersetzt „Hungertod“, in problematischer Anlehnung an den | |
Holocaust. Manche Politiker deuteten die Hungerkatastrophe zum | |
„ukrainischen Holocaust“ um. | |
Für viele in der Ostukraine ist der 9. Mai 1945, wie in Russland, Symbol | |
einer identitätstiftenden historischen Erzählung: des alles überstrahlenden | |
Sieges über die Nazis. Unter Putin ist der 9. Mai zum Zeichen der Größe | |
Russlands stilisiert worden. Schattenseiten sind aus dem heroischen Entwurf | |
getilgt: etwa die während des Kriegs weiterwütende stalinistische | |
Gewaltherrschaft oder die Deportation von aus Deutschland zurückkehrenden | |
sowjetischen Zwangsarbeitern in den Gulag. Die Geschichte wird patriotisch | |
in Dienst gestellt. In dieses Bild passt, dass auf der Krim am Freitag | |
russisches Militär paradiert. So wird Putins aggressive Politik 2014 mit | |
dem Kampf der Sowjetunion gegen Hitler legitimiert. | |
Russische Staatsmedien schüren Ängste vor „Faschisten“, die in Kiew die | |
Macht an sich gerissen hätten. Dies verfängt in Donezk, auch weil West- und | |
Ostukraine erinnerungspolitisch anders ticken. Die Angst vor Faschisten im | |
Westen sitzt im historischen Gedächtnis vieler Ostukrainer tief. Den Riss | |
symbolisiert vor allem das schroff entgegengesetzte Bild des Nationalisten | |
Stepan Bandera. In der Westukraine baute man in den 90er Jahren vielerorts | |
Orten Denkmäler für Bandera, der als Unabhängigkeitskämpfer verehrt wird – | |
im Osten gilt er als Nazikollaborateur. | |
## Nationalheld und -feind Stepan Bandera | |
Bandera und die nationalistische OUN bekämpften in den 30er Jahren militant | |
Polen und Russen. 1941 verbündete sich die OUN mit der einfallenden | |
Wehrmacht gegen die Rote Armee, in der falschen Hoffnung, dass Hitler eine | |
eigenständige Ukraine dulden würde. OUN und später die UPA waren an | |
Massakern an Juden und polnischen Zivilisten beteiligt. Manche Aufrufe der | |
OUN ähneln in der Agitation gegen „jüdischen Bolschewismus“ Nazipamphlete… | |
Der prowestliche Präsident Juschtschenko bedachte Bandera, trotz | |
internationaler Proteste, 2010 mit der Titel „Held der Ukraine“. | |
Juschtschenko nobilitierte den OUN-Kämpfer Roman Schuchewytsch, aber auch | |
Sowjettreue. Dies war der gescheiterte Versuch, einen historischen | |
Nationalkonsens durch reine Addition zu stiften. Unter dem prorussischen | |
Präsidenten Janukowitsch wurde die Aufnahme von Bandera und Schuchewytsch | |
in den nationalen Pantheon wieder zurückgenommen. | |
Wie aggressiv der ukrainische Nationalismus ist, demonstrierten am 9. Mai | |
2011 Aktivisten der Swoboda-Partei. In Lwiw verbrannten rechtsextreme | |
Jugendliche rote Fahnen, pöbelten gegen Kriegsveteranen und skandierten: | |
„Ehre der Ukraine! Ehre den Helden!“ Im ukrainischen Nationalismus | |
erscheint Moskau als der Feind, der benötigt wird, um die eigene Nation als | |
Opfergemeinschaft zu inszenieren. | |
## Zwei historische Identitäten | |
So stehen sich zwei historische Identitäten gegenüber. Im Bandera-Kult | |
wird, so der ukrainische Historiker Andrij Portnov, „die Mitwirkung der OUN | |
an der nationalsozialistischen Judenvernichtung ausgeblendet“. Im | |
gefeierten Bild des Großen Vaterländischen Krieges wird oft, mehr oder | |
weniger offen, Stalin rehabilitiert. | |
Diese Retroinzenierungen schaffen binäre Zuordnungen. Sie sind | |
Resonanzräume, in denen die Nachrichten vom Einsatz der Berkut-Schützen auf | |
dem Maidan und vom Feuer in dem Gewerkschaftshaus in Odessa ihre | |
radikalisierende Wirkung entfalten. Identity kills. Auf beiden Seiten. In | |
Charkiw und Odessa wurden die offiziellen Gedenkfeiern zum 9. Mai abgesagt. | |
Man fürchtet Gewalt zwischen prorussischen und proukrainischen | |
Demonstranten. | |
Das Durchschnittseinkommen in der Ukraine ist gut halb so hoch wie in | |
Weißrussland, ein Drittel so hoch wie in Polen. Die Nachfrage nach dem | |
heroischen Gestern ist auch Reflex von Verarmung und einem schrumpfenden | |
Zukunftshorizont. | |
8 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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