# taz.de -- Manfred Stolpe über Alltag und Politik: „Warum sollte ich Angst … | |
> Der ehemalige SPD-Ministerpräsident Brandenburgs erkrankte 2004 an Krebs. | |
> Heute geht es ihm „besser, als in manchen Zeitungen steht“, sagt er. | |
Bild: Manfred Stolpe: „Der Ministerpräsident hat kein Wochenende. Ob man dav… | |
sonntaz: Herr Stolpe, warum regiert die SPD in Brandenburg seit 1990? | |
Manfred Stolpe: Weil die Leute das Gefühl haben, dass die Sozialdemokraten | |
sie verstehen. Es gibt eine Art Urvertrauen zur SPD in Brandenburg. | |
Warum hier und sonst nicht im Osten? | |
In Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ist die SPD ja auch erfolgreich – auch | |
wenn in Berlin einige beleidigt sind, wenn man sie zum Osten zählt. | |
Matthias Platzeck war wie Sie elf Jahre lang Ministerpräsident in Potsdam. | |
Er ist aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Macht dieses Amt krank? | |
Es fordert jedenfalls viel. Ich hatte eine Siebentagewoche. Die Menschen | |
wollen den Ministerpräsidenten treffen, sie wollen ihm ihr Herz | |
ausschütten. Der Ministerpräsident hat kein Wochenende. Ob man davon krank | |
werden muss, weiß ich nicht. Aber gesund ist eine 75-Stunden-Woche eher | |
nicht. | |
Sie sind an Krebs erkrankt. Wie geht es Ihnen? | |
Besser, als es in manchen Zeitungen steht. Ein Journalist hat geschrieben, | |
dass mein Ende nah ist. So ist es nicht. | |
Welche Behandlung läuft jetzt? | |
Wieder eine Bestrahlung. Es gibt zwei kleinere Metastasen. | |
Haben Sie Angst? | |
Nein, Angst hatte ich noch nicht mal vor bösen Hunden. | |
Warum haben Sie keine? | |
Warum sollte ich? Meine Mutter, die gläubig war, hat mich für mein Leben | |
geprägt. | |
Haben Sie also Gottvertrauen? | |
Das würden Kirchenleute so beschreiben. Ich suche lieber Worte, die nicht | |
so fromm klingen. | |
Sie sind 2004 erstmals an Krebs erkrankt. War es eine Kränkung, dass Ihr | |
Körper nicht funktionierte, wie er sollte? | |
Es passte damals nicht so besonders. Es kam bei einer Routineuntersuchung | |
heraus. Ich war Bundesverkehrsminister. Es war die Zeit, als die Lkw-Maut | |
eingeführt werden sollte und ich bundesweit kritisiert wurde. | |
Weil das Toll-Collect-System nicht funktionierte. | |
Es gab technische Schwierigkeiten, das passiert manchmal bei Großprojekten. | |
Ich wusste aber: Ich muss noch ein knappes Jahr durchhalten, dann klappt | |
alles. Es wird zwar keine Siegesmeldungen auf den Titelseiten der Zeitungen | |
geben, eher eine Meldung auf Seite 5. Aber wenn wir das schaffen, sind das | |
fünf Milliarden Euro Einnahmen jedes Jahr für den Staat. | |
Sie haben die Krebsbehandlung damals aufgeschoben. War es das wert? | |
Wenn Sie im Geschirr stehen, müssen Sie auch laufen. Hätte ich aufgehört, | |
wäre ich immer der Versager gewesen. Und das Projekt Lkw-Maut wäre mit | |
meinem Rücktritt wohl gestorben. | |
Matthias Platzeck hat viel Zuspruch und Verständnis geerntet, als er | |
zurücktrat. | |
Ja, ich hatte aber doch keine Schmerzen. | |
Hätten Sie sich sonst anders verhalten? | |
Vielleicht. Die Ärzte sagten damals: Wir müssen das sofort operieren. Ich | |
habe gesagt: Sofort ist auch noch in ein paar Monaten. In dieser Zeit haben | |
sich die Metastasen entwickelt. Erst im Darm, später dann in der Lunge, der | |
Leber, den Nebennieren, jetzt wieder in der Lunge. Die Metastasen tauchen | |
unter, verschwinden und erscheinen wieder, wo sie niemand vermutet hätte. | |
Krebs ist wie ein Schläfer. | |
Haben Sie bereut, 2004 die Operation verschoben zu haben? | |
Nein. | |
Die Essayistin Susan Sontag ist in den siebziger Jahren an Krebs erkrankt. | |
Sie hat damals in „Krankheit als Metapher“ geschrieben, dass Krebs bei ihr | |
das Gefühl auslöste, dass sie „der eigene Körper verraten habe“. Und sie | |
hat sich gefragt: „Warum gerade ich?“ Fragen Sie sich das auch? | |
Nein. Es gibt ja Hunderttausende, die diese Krankheit haben. Wenn Sie | |
selbst Krebs haben, sind Sie überrascht, wie viele dieses Schicksal teilen. | |
Sontag schrieb weiter, dass Krebs ein „heimlicher Skandal“ sei, den „man | |
verbergen wolle“, wie etwas Peinliches. Kennen Sie das? | |
So nicht. Nach Veranstaltungen kommt es vor, dass Leute mit mir sprechen | |
wollen. Die drängen sich nicht vor, sie warten, weil sie der Letzte sein | |
wollen. Die möchten dann mit mir über Krebs reden, ihre eigene Krankheit. | |
Ist es also nicht peinlich, über Krebs zu reden? | |
Nein. Vor zehn Jahren war es eher so, dass diese Diagnose wie ein | |
Todesurteil war. Wer betroffen war, konnte durchaus befürchten, dass viele | |
auf Distanz zu ihm gehen, deshalb haben manche den Krebs lieber | |
verschwiegen. Das hat sich verändert. Die Fähigkeit der Medizin, Metastasen | |
zu entdecken, ist unglaublich ausgereift. Manche Spezialisten sagen: Wir | |
erkennen zu viel. Wir machen Eingriffe, die nicht nötig sind. Die | |
medizinische Diagnostik und auch der Fakt, dass man darüber mehr redet als | |
früher, hat das Peinliche verdrängt. | |
Kennen Sie einen Witz über Krebs? | |
Ich kann mir Witze nicht merken. | |
Hilft es, über die Krankheit zu reden? | |
Ich habe das Gefühl, dass es den Leuten hilft, wenn ich mir Zeit nehme und | |
zuhöre. | |
Wir meinten, ob es Ihnen hilft. | |
Meine Ärzte sagen, ich sei ein Sonderfall. So lange krank, dabei so munter. | |
Ihre Frau ist Ärztin. Hat Ihnen das geholfen? | |
Mit einer Ärztin verheiratet zu sein, hilft eigentlich in allen | |
Lebenslagen. Und ja, sie hat mich gedrängt, 2004 die Vorsorgeuntersuchung | |
zu machen. | |
Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach ist unheilbar an Krebs erkrankt und | |
macht weiter Politik, als wäre nichts gewesen. Warum? | |
Wohl aus Pflichtgefühl. Es ist aber auch Ablenkung, ein Weg, um sich nicht | |
nur mit der Krankheit zu beschäftigen. | |
Politiker sind oft süchtig nach öffentlicher Aufmerksamkeit. Heide Simonis, | |
die frühere Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, fand die | |
Vorstellung, auf der Straße nicht mehr erkannt zu werden, schwer | |
erträglich. Kennen Sie das von sich? | |
Ich war immer gern der Mann in der zweiten Reihe, vor allem bis 1989. | |
Da waren Sie Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche und | |
Kirchenjurist in der DDR. | |
Ich habe mich nicht nach vorne gedrängt, ich musste nicht neben den | |
Bischöfen oder vorne auf der Bühne stehen. Als Ministerpräsident ließ sich | |
das dann nicht vermeiden. | |
Sie standen also unwillig im Rampenlicht? | |
Unwillig, nein. Das gehörte ja zum Geschäft. Aber den Impuls: Wo ist die | |
Kamera? Wo sind die Fotografen? – den hatte ich nicht. An das Gefühl – | |
Wisst ihr alle, wer ich bin? – kann ich mich nicht erinnern. | |
Kennen Sie die Sucht nach Aufmerksamkeit von Kollegen? | |
Ich kenne Politiker, die sehr glücklich waren, wenn sie auf der Straße | |
erkannt und auch noch mit dem richtigen Namen angeredet wurden. Zu mir sind | |
etliche Male Leute gekommen und haben gesagt: Schön, dass Sie bei uns sind, | |
Herr Biedenkopf. | |
Waren Sie beleidigt? | |
Nein, verwundert. | |
Ist die Sucht nach Rampenlicht eher typisch für westdeutsche Politiker? | |
Ich wäre da vorsichtig. Aber in einer demokratischen | |
Wettbewerbsgesellschaft muss man öffentlich zeigen, dass man sich | |
durchsetzen kann. Wir aus dem Osten wollten lieber nicht auffallen und | |
trotzdem dranbleiben. Mein Motto war: Unauffällig sein, aber immer wissen, | |
worauf es ankommt. Da war es schädlich, allzu deutlich im Vordergrund zu | |
stehen. | |
Sie werden jetzt 78 Jahre alt. Was bleibt von Ihnen, politisch? | |
Ich habe immer versucht, für die Menschen Verbesserungen zu erreichen. Ich | |
war seit den siebziger Jahren Verhandlungsführer für die Evangelischen | |
Kirchen gegenüber dem DDR-Staat und habe das in dieser Funktion versucht. | |
Später waren Sie der „Ministerpräsident mit Stasikontakten“. Verletzt Sie | |
das noch? | |
Ich habe immer gesagt, dass ich auch mit der Stasi geredet habe. Das ging | |
nicht anders. Dem Spiegel bin ich nach wie vor ein wenig gram. Dem habe ich | |
1992 mein Buch „Schwieriger Aufbruch“ zum Vorabdruck gegeben, und der | |
Spiegel hat, mit meinem eigenen Text, daraus den Vorwurf der Stasi-Nähe | |
konstruiert. Aber ich habe ja gegen die Angriffe vor dem | |
Bundesverfassungsgericht Recht bekommen. Und alle Bischöfe haben mich | |
verteidigt und gesagt: Er war unser Mann, er musste das machen, also auch | |
mit der Stasi reden. | |
Fühlen Sie sich im Westen unverstanden? | |
In Stuttgart, Düsseldorf oder Hamburg musste man sich nicht mit Details der | |
DDR beschäftigen. Was sich dort eingeprägt hat, waren die Schreckensbilder | |
des Überwachungsstaates DDR. Es gab aber auch ein normales Leben, Familien, | |
Freundschaften Zuverlässigkeitserfahrungen. Im Westen existiert oft nur das | |
Bild von der DDR als großem Stasiknast. | |
Macht Sie das noch wütend? | |
Ich diskutiere gerne darüber. Eben um zu zeigen, dass das Leben in der DDR | |
ein paar Seiten mehr hatte. | |
Marianne Birthler, 1990 bis 1992 Ihre Bildungsministerin, später Chefin der | |
Stasiunterlagen-Behörde, warf Ihnen vor, in Brandenburg zu schnell ein | |
Versöhnungsprojekt mit den Ex-DDR-Eliten betrieben zu haben. | |
Marianne Birthler war schon immer rigoroser und kompromissloser, auch vor | |
1989. Ich habe das schon in der DDR anders gesehen: Meine politische | |
Schlüsselerfahrung war 1953, als sowjetische Panzer den Aufstand in den | |
Tagen um den 17. Juni niederschlugen. Es war die Erfahrung: Wenn die Panzer | |
rollen, haben wir gar keine Chance. Deswegen müssen wir die Zuspitzung | |
vermeiden. Das war meine Haltung bis 1990. | |
Und danach? | |
Ich hatte das Gefühl: Es ist sinnlos, jetzt zu hetzen. Wir werden | |
strafrechtlich relevanten Vorkommnissen nachgehen, aber sonst allen eine | |
Chance geben, mitzugehen. Warum denn ausgrenzen? Das war der sogenannte | |
Brandenburger Weg, der als „kleine DDR“ oder „sozialistische Wärmestube�… | |
kritisiert wurde. | |
Brandenburg hat ein mieses Image. Vielen gilt es als das dumpfe Land um | |
Berlin und kurz vor Polen. | |
Das ist Meinungsmache, die aus Teilen der Berliner Politik kommt. Da sitzen | |
die Vorurteile gegen die „sozialistische Wärmestube“ tief. Die | |
Brandenburger haben schon Selbstvertrauen, aber sie tragen es nicht vor | |
sich her. Die Leute gehen nicht geduckt. Aber ihnen fehlt die Gabe, positiv | |
auf sich aufmerksam zu machen. Dabei sprechen die Zahlen für sich. | |
Brandenburg steht wirtschaftlich unter den östlichen Bundesländern mit am | |
besten da. | |
Haben Sie vor 1989 Fehler gemacht? | |
Eigentlich nur einen. Ich hätte zu den Kontakten mit der Stasi mehr Leute | |
in der Kirche einweihen müssen. Dem damaligen Bischof Gottfried Forck habe | |
ich zum Beispiel bei Weitem nicht alles erzählt, was ich erlebt und gewusst | |
habe. Forck redete Klartext, deshalb fürchtete ihn der SED-Staat. Ich | |
dachte damals, dass er diese klare Rede verlieren könnte, wenn ich ihn mit | |
allen Untiefen und Schleichwegen vertraut gemacht hätte. Später hat Forck | |
mir gesagt, dass er mir das übel genommen habe. Denn er hätte sich mit | |
Freuden dekonspiriert. | |
Wie erklären Sie Ihren Enkeln Ihre Rolle in der DDR und in der Wendezeit? | |
Beide sind im neuen Jahrtausend geboren, für die ist die Römerzeit im | |
Moment interessanter als die DDR. Ich werde ihnen das nicht von mir aus | |
erklären. Die beiden müssen Fragen an mich haben. Die DDR ist für sie ganz | |
weit weg. | |
Was wären Sie geworden, wenn Sie 1989/90 nicht Politiker geworden wären? | |
Ich wollte gar nicht in die Politik. Ich war 1989 Verwaltungschef der | |
Kirchen. Damals ging es um die Vereinigung der Ost- und der Westkirche. Das | |
war schwierig, etwa bei der Militärseelsorge, die im Westen anerkannt war | |
und im Osten total abgelehnt wurde. Oder bei der Kirchensteuer, die es im | |
Westen gab und im Osten nicht. Ich habe damals zwischen Ost- und Westkirche | |
vermittelt. Der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, | |
Johannes Rau, sagte dann 1990 zu mir: Dich kennt man in Brandenburg, du | |
musst bei den Wahlen antreten. | |
Sind Sie aus Lust oder aus Pflicht Politiker geworden? | |
Das habe ich mich noch nie gefragt. Wenn ich eine große Antipathie gehabt | |
hätte, hätte ich mich weigern können. Obwohl Johannes Rau es verstand, | |
Leute zu kneten. Im Wahlkampf im Herbst 1990 habe ich nicht geglaubt, dass | |
die SPD eine Chance hat. Helmut Kohl war ja omnipräsent. Als wir die Wahl | |
gewonnen haben, war ich ein kleines bisschen erschrocken. | |
Ist Pflicht für Sie wichtig? | |
Pflicht als Selbstzweck, nein. Mein Empfinden war eher: Man darf nicht | |
kneifen. | |
10 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
Stefan Reinecke | |
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