# taz.de -- WM-Sticker sammeln: Haste mal‘n Tütchen? | |
> 216 gegen 406. Ui, ein Glitzi! Zur Fußball-WM soll das Panini-Album voll | |
> sein. Kinder und Erwachsene haben plötzlich Stress – und Spaß. | |
Bild: Nicht anlecken, einkleben! | |
75 neue Sticker auf einen Streich, und das ohne einen einzigen doppelten | |
Aufkleber. Die Kinder glauben es mir erst, als sie den Schatz vor sich | |
sehen. Dieser Mittwochabend wird in die Geschichte eingehen. Dabei habe ich | |
nur einen Freund getroffen, den ich ohnehin ständig treffe. Wir trinken ein | |
paar Bier, sitzen am ersten Frühsommerabend draußen, quatschen ein | |
bisschen. Aber erst, nachdem wir gegenseitig unsere Panini-WM-Alben | |
inspiziert und reichlich getauscht haben. | |
Alle vier Jahre zur WM (und auch sonst zu vielen Anlässen) bringt Panini | |
ein neues Stickeralbum heraus. Und alle vier Jahre mache ich mit, der | |
Kinder wegen, versteht sich. Diesmal braucht es 640 Sticker, um das Album | |
vollzubekommen. Jedes der 32 WM-Teams ist mit 19 Stickern vertreten, einmal | |
mit einem glitzernden Wappen (“Ich hab einen Glitzi!“, sagen die Kinder), | |
einmal mit einem Mannschaftsbild, dann noch ein Torwart und 16 Spieler. | |
Dazu diverse Stadien und noch ein paar Glitzis zur Fifa und zu Brasilien. | |
Ein Tütchen mit fünf Stickern kostet 60 Cent. 4.505 Sticker, also 901 | |
Tütchen müsste man im Durchschnitt kaufen, um 640 unterschiedliche Motive | |
zu erhalten. So will es die Sammelbildformel, die mehrfache Sticker | |
berücksichtigt und deren [1][Anblick auf Wikipedia] nur Mathematiker mit | |
abgeschlossenem Studium erfreut. Kosten würde der Spaß demnach 540 Euro und | |
60 Cent. Und das auch nur, wenn die Sticker tatsächlich gleichmäßig auf die | |
Tütchen verteilt wären. Panini behauptet, es sei so. Zahlreiche Mitglieder | |
in Tauschbörsen und auch diverse [2][Medien zweifeln] das an. | |
Egal. Die Realität sieht anders aus. Man kauft am Anfang viele Tütchen, bis | |
das Album an Fülle gewinnt. Dann kommt eine Phase, in der ungefähr gleich | |
viel zugekauft wie getauscht wird. Danach überwiegt das Tauschen und nur | |
noch gelegentlich wird zugekauft. Und die letzten fehlenden 50, 43 oder 37 | |
Sticker werden direkt bei Panini bestellt. Mehr als 50 dürfen beim Verlag | |
nicht angefordert werden. | |
## Erwachsene im Tauschwahn | |
Bis dahin ist es ein weiter Weg, und jeder – Kind wie Erwachsener – muss | |
ihn mitgehen. Das bedeutet: Kaufen, tauschen, tauschen, kaufen. Das ist | |
Kommerz pur, klar, aber auch: Mit Leuten ins Gespräch kommen, mit denen man | |
sonst nichts zu tun hat. Alte Bekannte wiedertreffen. Die Vorlieben anderer | |
akzeptieren. Wenn die Kinder das Album und die Doppelten mit in die Schule | |
oder in den Hof nehmen, tauschen sie anders als Erwachsene (Glitzis! Nur | |
die Spieler, die sie aus der Bundesliga und Champions League kennen. Ein | |
Wunder, dass wir immer noch nicht alle deutschen Nationalspieler haben.) | |
Es braucht außerdem exakte Absprachen, wer das Album und die doppelten | |
Sticker wann in die Schule, ins Büro oder zu Freunden mitnehmen darf. Was | |
getauscht wird, muss notiert werden; auch die weggegeben Doppelten. Nur so | |
lässt sich der Datenbestand auf Stickermanager.com ohne Dauerflucherei und | |
mit geringem Zeitaufwand aktuell halten. | |
[3][Stickermanager.com] ist die Online-Tauschbörse für Sticker. Hier wird | |
alles getauscht, was sich in Sammelalben einkleben lässt. Zuletzt waren es | |
509 verschiedene Sammelalben, die von Laien und Maniacs, von Neu-Junkies | |
und Altabhängigen gefüllt werden wollten. Darunter häufig nachgefragte | |
Alben wie jene zur WM, zur aktuellen Fußball-Bundesliga-Saison oder zur | |
Star-Wars-Saga. Es finden sich dort aber auch Kollektionen wie „Bielefeld | |
sammelt Bielefeld“, „Unser Sachsen“ oder „Hello Kitty Superstar“. Sel… | |
Uraltalben wie das zum „FIFA World Cup 1970 Mexiko“ treffen noch auf | |
Interessierte. Außer Panini sind hier viele anderen Sammelalbum- und | |
Stickeranbieter vertreten. | |
Wir haben den Stickermanager im Jahr 2006 entdeckt, die Kinder waren noch | |
zu klein, um selbst mit Freunden zu tauschen. Über das Online-Portal habe | |
ich damals kurz vor der WM wildfremde Menschen kennengelernt, sie an | |
Berliner U-Bahn-Stationen oder auf zentral gelegenen Plätzen getroffen. | |
Erwachsene Menschen jeden Alters und aus jeder sozialen Schicht begrüßen | |
sich voller Vorfreude und die Cooleren fragen im Scherz: „Haste mal‘n | |
Tütchen?“ Dann wird kurz geplauscht und lange getauscht und jeder zieht gut | |
gelaunt wieder ab. | |
## Pedanten, Profis, Profilneurosen | |
Mit einigen tauscht man per Brief und lernt dabei, wie unterschiedlich | |
Sammler ticken. Der eine pflegt die Veränderungen schon beim Einkleben | |
direkt ins eigene Stickermanager-Profil ein, damit sofort weitergetauscht | |
werden kann, und drängt andere, das auch zu tun. Pedanten beschweren sich | |
darüber, dass die Sticker ohne Schutzumschlag im Brief lagen und nun | |
minimal „abgerieben“ seien. Profi-Sammler erkennt man an großer | |
Gelassenheit und unfassbarer Detailkenntnis: „Ist dir aufgefallen, wie | |
hochwertig heute die Qualität der Fotos bei Frankreich im Vergleich zu 2002 | |
ist?“ | |
Es gibt Sammler, die mit Detailkenntnissen verblüffen wollen, und doch nur | |
Verschwörungstheorien verbreiten, und es gibt welche, die alles neu | |
Erworbene sofort einkleben müssen und dabei ihr Gegenüber völlig vergessen. | |
Es ist eine Welt, in der kleine Aufkleber jede Profilneurose, menschliche | |
Macke und Verhaltensauffälligkeit exakt abbilden. | |
Bei uns haben mittlerweile die Kinder den überwiegenden Teil des | |
Tauschgeschäfts übernommen. Das ist gut und schlecht zugleich. Schlecht, | |
denn es wird sozialer und finanzieller Druck erzeugt; Sticker-Tauscher und | |
Nicht-Sticker-Tauscher bilden auf dem Schulhof manchmal eigene Peer Groups; | |
nicht jede Familie kann sich Panini-Sticker leisten. Gut, denn Kinder | |
hebeln dabei oft die Fallen des Kommerzes aus. Da wird in ungleichen Mengen | |
getauscht, einfach weil andere weniger haben, jünger sind, zum anderen | |
Geschlecht gehören. Da werden auch mal die gratis in der Schule | |
ausliegenden Alben mitgenommen, nur um die sechs eingelegten Sticker | |
abzugreifen und das Album in den Müll zu werfen. | |
## Getrennt tauschen, gemeinsam einkleben | |
Seit acht Jahren kleben wir die gekauften oder getauschten Sticker nun | |
gemeinsam ein. Diese Zeitspanne sieht man unseren Sammelalben an. 2006 | |
pappten ein Einjähriger und eine Vierjährige mit schokoladenbeschmierten | |
Händen mit, Ordnungsfetischisten sollten sich jenes Album besser nicht | |
ansehen. Im Jahr 2010 waren schon mehr als die Hälfte aller Sticker | |
halbwegs gerade angebracht, es wurde allerdings noch viel gemalt. | |
Diesmal haben wir andere Probleme. Wenn die Kinder tauschen, kleben sie die | |
Sticker oft gleich ein. Nähme ich mir das heraus, wäre das Geschrei groß. | |
Ich bin als Kaufesel gebucht, einkleben darf ich nur, wenn die gesamte | |
Familie dabei ist und wenn ich mich exakt ans System halte. Das System | |
sieht so aus: Jeder hat gleich viele Sticker, bei nicht durch vier | |
teilbaren Zahlen wird zugunsten der Kinder aufgerundet. Außerdem haben Sohn | |
und Tochter einen sogenannten Lieblingsspielerbonus. Das heißt, Spieler wie | |
Neuer, Podolski, Reus, Messi etc. müssen unabhängig von der | |
Gesamtaufteilung der Sticker abgetreten werden. Aus anderen Familien, so | |
hört man, gibt es ähnliche altersdiskriminierende Einklebsysteme. | |
Was soll‘s. Sammeln, tauschen, einkleben – gemeinsam oder getrennt – macht | |
Spaß. Die Fußball-WM rückt näher und wir überbrücken die Zeit bis dahin m… | |
kleinen WM-Aufklebern. Wenn die WM dann endlich da ist, dann wird sie | |
hoffentlich ein Glitzi! | |
4 Jun 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Sammelbilderproblem | |
[2] http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/panini-sticker-analyse-24-000-auf… | |
[3] http://www.stickermanager.com/ | |
## AUTOREN | |
Maik Söhler | |
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