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# taz.de -- Schlagloch Kunst und Vergangenheit: Totalitarismus, was war das noc…
> Jugendliche in Europa wissen nur wenig über die totalitäre Vergangenheit
> ihrer Staaten. Doch immer mehr Künstler setzen sich mit ihr auseinander.
Bild: Ereignisse wie der Prager Frühling 1968 sind der nachfolgenden Generatio…
Am Ende, wenn alles vermeintlich gesagt ist und doch so vieles verschwiegen
bleibt, richten die Schauspielerinnen, die keine sind, das Wort direkt an
das Publikum, um zu berichten, was sie dieser Tage mit ihrem Leben
anstellen. Einer von ihnen, ein stämmiger Mann, der mal Minenarbeiter, mal
Schriftsetzer, zwischendrin in politischer Gefangenschaft war, erzählt von
seinem Blog, in dem er sich frage, wie es mit der Massenüberwachung
weitergehen wird. Da war sie auf einmal, die Verbindung zwischen einem
längst zu Grabe getragenen Monster namens Stasi und einem gerade erst
sichtbar werdenden Kraken namens NSA.
Denn in einem Theaterfestival namens „Parallel Lives“, das gerade im
Staatsschauspiel Dresden stattfand, sind mit den schizophrenen Biografien
zunächst die vielen aktenkundigen Geschichten aus den ehemaligen
kommunistischen Ländern gemeint, doch dürfte es den Zuschauern
schwerfallen, die dokumentarischen Inszenierungen, die ins Herz von
Manipulation, Kontrolle, Denunziation und Verrat zielten, auf die heutige
Zeit zu übertragen. Am stärksten vielleicht in dem Stück „Meine Akte und
ich. Eine Recherche über die Staatssicherheit“, das betroffenen Bürgern
Dresdens die Gelegenheit gibt, auf der Bühne ihr eigenes
Erinnerungsmaterial zu sortieren und zu reflektieren.
So eindrücklich gelingt den Laien die ungewohnte spielerische Annäherung an
die eigene Vergangenheit, dass man sich fragt, ob es Profis besser gelungen
wäre. Ein Erzieher fragt sich auf einmal, ob er denn heute nicht vor den
gleichen Fragen stehe wie einst in der DDR: wie er das System von innen
heraus mit friedlichen Mittel reformieren könne.
Und eine Mitarbeiterin im Archiv der Stasiunterlagenbehörde, wie lange es
noch dauern würde, bis die zehn Aktenkilometer, die allein in der
ehemaligen Bezirksstadt Dresden lagern, gesichtet, geordnet und bearbeitet
sein werden. So entsteht nicht nur in diesem Stück eine merkwürdige
Spannung zwischen einer noch nicht aufgearbeiteten Geschichte
geheimdienstlicher Repression und einer schleichenden Einführung
neuerlicher geheimdienstlicher Repression durch die Massenüberwachung.
Es ist unmöglich, sich die ungarischen, rumänischen und slowakischen Stücke
anzusehen, ohne einen Schauder zu empfinden, wie tief diese Gesellschaften
von der perfiden Instrumentalisierung der Menschen durch die
Staatssicherheitsdienste traumatisiert sind und wie sehr die
gesamtgesellschaftliche Kontaminierung durch Paranoia und Geheimnistuerei
anhält.
Information ist nicht nur die Währung von Herrschaft in modernen Zeiten,
sondern auch, gelagert in Akten und Archiven, eines der wichtigsten
Instrumente von Machterhalt, weswegen in allen osteuropäischen Staaten, in
denen die Bürger nicht so wie in der ehemaligen DDR die Archive gestürmt
und sich ihres Inhalts bemächtigt hatten, die alten Eliten weiterhin
unangefochten als kapitalistische Profiteure reüssieren.
## Junge Generation ist mit der Vergangenheit nicht vertraut
Uta Leichsenring, bis vor Kurzem Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde in
Halle, hat daher völlig recht, wenn sie in einem Podiumsgespräch am Ende
dieses außergewöhnlichen Festivals die großartige Errungenschaft des
unabhängig kontrollierten und allen zugänglichen Stasiarchivs
unterstreicht. Wenigstens in diesem Fall hat sich das Volk wirklich
durchgesetzt.
Das künstlerische Interesse an den Realitäten des ehemaligen Ostblocks hat
in den letzten Jahren spürbar zugenommen, nicht nur im Theaterbereich. Es
ist höchste Zeit, denn obwohl erst fünfundzwanzig Jahre seit dem Fall der
Berliner Mauer vergangen sind, merkt man den ästhetischen
Auseinandersetzungen an, wie wenig zeitgeschichtliche Kenntnisse die
Künstler voraussetzen können.
Auffällig, dass in allen Stücken meist per multimedialer Einspielung
historische Orientierungen vorgenommen werden, so als müsse man den Kontext
schaffen, um die konkrete Handlung zu verstehen.
Das entspricht verschiedenen Umfragen, denen zufolge Jugendliche in diesen
Ländern (das gilt auch für Deutschland) Schwierigkeiten haben, selbst die
einfachsten Fragen über das einstige totalitäre System zu beantworten. Es
ist bemerkenswert, dass Schlagwörter, die aufgrund ihrer inflationären
Nutzung ganzen Bevölkerungen zu den Ohren herauskamen, bereits der
nachfolgenden Generation kaum vertraut sind: Dazu gehören epochale
Ereignisse wie die Ungarische Revolution von 1956 und der Prager Frühling
von 1968.
## Nachhilfe im Theater
Besonders eindrücklich ist in dem rumänischen Stück „Tipografic majuscul“
(Schrift in Großbuchstaben) das Porträt eines gerade einmal 16-jährigen
Schülers, der die Gleichschaltung in seiner Gesellschaft nicht erträgt und
mit Kreide Parolen auf die Mauern schreibt, die Gerechtigkeit und Freiheit
fordern. Geschickt baut das Stück den Konflikt zwischen individueller
freiheitlicher Tat und der Reaktion eines gewaltigen Apparats auf, der sich
in seiner perversen Existenz durch diese Parolen geradezu bestätigt sieht.
Am Ende, nach getaner Vernichtungsarbeit, sitzen die Mitarbeiter der
Securitate wie fröhliche Gäste in einer Talkshow mit
übereinandergeschlagenen Beinen nebeneinander und deklinieren die Grammatik
der Selbstrechtfertigung durch.
Und da klingt es wieder durch, das Totschlagargument von den Anfordernissen
der Sicherheit, dem Wert der Ordnung, der systemimmanenten Zwangsläufigkeit
– lauter Argumente, denen wir heute auch begegnen. Gut vorstellbar, dass
jene, die argumentieren, der Unschuldige habe bei der Massenüberwachung
nichts zu befürchten, auch die Aktivitäten der Stasi gerechtfertigt hätten.
Oder in den Worten der slowakischen Regisseure L’ubomir Burger und Dusan
Vicen: „Das Thema der Verfolgung und der vom Staat gegen seine eigenen
Bürger verübten Verbrechen (…) ist in vielerlei Hinsicht brisant. Auf der
einen Seite ist es wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, dass es so
etwas gab und dass wir es zuließen. Auf der anderen Seite bleibt die
zwingende Frage bestehen, ob wir heute nicht etwas Ähnliches
stillschweigend tolerieren, auch wenn es handwerklich geschickter und
versteckter vonstattengeht.“
27 Jun 2014
## AUTOREN
Ilija Trojanow
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Schlagloch
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Schwerpunkt Christian Semler
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