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# taz.de -- Schriftsteller Georgi Gospodinov: „Europa ist von Traurigkeit erg…
> Kürzlich ist sein Roman „Physik der Schwermut“ erschienen. Der
> bulgarische Autor über Empathielosigkeit, den Kalten Krieg und
> Minotauren.
Bild: Graffiti an einer Wand in „Druzhba“, einem Viertel in der bulgarische…
taz: Herr Gospodinov, Ihr Roman „Physik der Schwermut“ befasst sich mit
einer eigentümlichen, schmerzvoll fröhlichen Traurigkeit. Ist die Schwermut
Ihr literarisches Thema?
Georgi Gospodinov: Der Protagonist meines Romans ergründet die Geschichte
von der mythischen Schwermut des Minotaurus bis zur gegenwärtigen
Schwermut. Da kommt massenweise aufgehäufter Kummer zum Ausdruck. Und doch
ist nicht die Schwermut selbst das Thema meines Romans, sondern der Trost,
die Empathie. Denn das ist die alte große Aufgabe der Literatur, Trost zu
spenden und neuen Sinn zu schaffen.
Ist es das, was wir im gegenwärtigen Europa vermissen: Empathie, Mitleid
und Solidarität?
Wir haben nicht nur ein europäisches Defizit an Empathie, sondern ein
globales. Und da wir in einer Kultur leben, in der die Sprache der
Wirtschaft und die Werte des Kapitals auch die Sprache und die Werte der
Kultur bestimmen, bringe ich dieses Defizit in dieser Sprache zum Ausdruck:
Die Produktion von Empathie ist ausgelaufen, die Reserven sind erschöpft
und das Bruttoinlandsprodukt an Mitleid und Barmherzigkeit hat einen
kritischen Tiefstand erreicht. Das ist kein geringeres Problem als die
wirtschaftliche Krise oder die Erschöpfung der Ölreserven. Produziert wird
Empathie von der Kultur und von der Literatur im Besonderen. Man darf die
Literatur nicht unterschätzen. Sie ist ein langsames Medium. Aber sie
schafft lang anhaltenden Sinn.
Rührt die Schwermut von der Sehnsucht nach einer unwiederbringlichen
Vergangenheit?
Als ich den Roman begann, wollte ich von der Schwermut in meinem Land,
Bulgarien, erzählen. Während des Schreibens erkannte ich jedoch, dass ganz
Europa von Traurigkeit ergriffen ist. Die Reserven an Sinn und
Zukunftshoffnung sind aufgebraucht. Die Vergangenheit war voller Zukunft.
Sie enthielt viel mehr Zukunft, als wir heute haben. Die Technik, die
Finanzen, die Medizin und die Politik – alles hat einen Gipfel erreicht,
hinter dem wir in eine neue Zukunft eintreten sollten. Aber wir sind für
diesen Schritt nicht bereit. Allmählich beginnen wir zu verstehen, dass die
Flüge zum Mars uns aus unserem Kummer nicht retten werden. Unsere Zukunft
ist erfüllt von Vergangenheit.
Wird Literatur nicht häufig von diesem Wunsch getrieben, die Zeit
anzuhalten?
Die Zeit anzuhalten, das ist es, was der Protagonist meines Romans durch
Literatur und Quantenphysik zu erreichen versucht. Mithilfe von Empathie
gelingt es ihm. Der Mensch ist die einzige Zeitmaschine, die wir kennen.
Und die Literatur ist sich dessen bewusst. Durch die Erinnerung und die
Geschichten, die wir erzählen, schaffen wir es, wie eine Scheherazade
zumindest für eine Weile den Lauf der Zeit zu verwirren. Denn das Einzige,
was Zeit und Tod fürchten, sind unsere Geschichten.
Sie beginnen Ihren Roman mit dem Ersten Weltkrieg – der Geburt Ihres
Großvaters. Sind hundert Jahre der Zeitraum, den man erzählerisch
überbrücken kann?
Hundert Jahre sind noch innerhalb der zeitlichen Grenzen, die die
Erinnerung und die Biografie setzen. Darüber hinaus beginnt die Geschichte.
Ich erinnere mich an die Erzählungen über meine Urgroßmutter, die in einem
Ausbruch von Wahnsinn und Torheit ihren Mann auf den Schlachtfeldern des
Ersten Weltkrieges suchen ging. Ihr Leben währte beinahe ein Jahrhundert.
Das ist eine gute Zeitspanne für das Erzählen. Man kann sich noch an die
Geschichten erinnern, die einem erzählt wurden. Man sieht die Gesichter der
Erzähler vor sich und kann sich die Umstände vergegenwärtigen, unter denen
die Erzählungen stattfanden. Ich komme aus einer Kultur, die sich aus
mündlich erzählten Geschichten speist.
Vom Ersten Weltkrieg spannen Sie den Bogen über fünf Generationen bis in
die Gegenwart und vermessen ein ganzes Jahrhundert. Ist es das Jahrhundert,
in dem das alte Europa endgültig untergegangen ist?
Wir hatten die Gelegenheit, durch ein Jahrhundert zu gehen, in dem einige
Weltuntergänge stattfanden und einige beinahe passiert wären. Wir gingen
durch zwei heiße Kriege und einen kalten. Und während des Kommunismus wurde
uns Schülern ständig gedroht, in naher Zukunft einen weiteren zu erwarten.
Glücklicherweise schlug die Neutronenbombe nicht ein. Auch die Vorhersagen
über den Weltuntergang im Jahr 2000 wurden nicht wahr. Ich erinnere mich,
dass meine Großmutter ernsthaft daran glaubte, und ich glaubte ihr. Ich war
damals neun Jahre alt, und ich rechnete mir aus, dass ich zum Zeitpunkt der
Apokalypse im Jahr 2000 ein alter Mann von 33 Jahren sein würde. Später war
ich überrascht, dieses Alter zu überleben, während meine Großmutter genau
im Jahr 2000 starb. Der Weltuntergang ist eine sehr persönliche
Angelegenheit.
Eine große Rolle spielt in Ihrem Roman der Minotaurus. Dieser Mythos steht
für Orientierungslosigkeit. Sind wir solche Minotauren?
In einer Szene meines Romans steht der Protagonist verwirrt auf einem
Flughafen. Er hat sein Ziel vergessen und erinnert sich nicht mehr, von wo
er aufgebrochen ist und wohin er zurückkehren will. Ein solches Gefühl von
Heimatlosigkeit und Verlust illustriert zu einem gewissen Grad unsere
heutigen Gefühle. Die extreme Mobilität und die Ungezwungenheit, mit der
wir von einem Ort zum anderen wechseln, bringen viele Vorteile. Aber es
gibt eine Grenze, jenseits derer wir leicht das Bewusstsein für das Ganze
verlieren könnten.
Der Minotaurus taucht immer wieder in Ihrem Roman auf. In der Zeit des
Kalten Kriegs tritt er als Mensch mit Gasmaske in Erscheinung?
Die Gasmaske war eine traumatische Erfahrung meiner Kindheit. In der Schule
trainierten wir, sie möglichst schnell aufzusetzen. Wir waren sicher, dass
der Westen uns mit einer Atom- oder Neutronenbombe beschießen würde. Ich
sorgte mich vor allem um meine Großeltern. Da beide alt waren, hätten sie
es nie geschafft, die Gasmasken rechtzeitig aufzusetzen. Bevor sie nur ihre
Brillen gefunden hätten, wären sie schon tot gewesen. Diese Ängste gehörten
zu unserer Kindheit während des Kalten Kriegs. Ich musste über sie
erzählen.
Haben Sie die Menschen in Bulgarien aufgefordert, ihre Geschichten aus der
Zeit des Sozialismus zu erzählen?
Wichtig an dem Projekt war für mich der Akt des Erzählens, das Durchbrechen
des Schweigens. Das stellte sich in Bulgarien nach 1989 als gar nicht so
einfach heraus. Es herrscht in der bulgarischen Gesellschaft eine Kultur
des Schweigens. Sie stammt noch aus den totalitären Zeiten, setzte sich
danach fort und existiert auch innerhalb der Familien. Unser Projekt aber
funktionierte. Wenn Menschen fühlen, dass man ein Ohr für ihre Geschichten
hat, erzählen sie bereitwillig. Darin liegt auch das Geheimnis der
Empathie. Jeder Schriftsteller weiß das. Er ist ein Ohr für die anderen.
„Für gewöhnlich wird die Geschichte von dem erzählt, der sich in einer
schwachen Position befindet“, heißt es in Ihrem Roman. Schreiben die Sieger
die Geschichte, aber die Verlierer die Geschichten?
Darum glaube ich mehr an die Geschichten als an die Geschichte. Die
Literatur sollte auf der Seite der Verlierer und der Leidenden stehen, der
Verlassenen, der Unsicheren und jener, die in die Labyrinthe der Welt
eingesperrt sind – der Minotauren in uns. Die Menschen haben den rettenden
Ariadnefaden der Geschichten, den die anderen Lebewesen nicht haben.
Am Ende finden in einer knappen Sequenz alle Geschichten ein gutes Ende.
Ist das die rückwirkende Erfüllung aller Träume?
Alle Geschichten enden zu guter Letzt glücklich. Denn während wir sie
erzählen, sind wir noch am Leben. Und die, über die wir erzählen, waren zu
jener Zeit, aus der ihre Geschichten stammen, am Leben. Als Kind mochte ich
am liebsten Geschichten, die in der ersten Person erzählt waren. Ich
wusste, der Erzähler würde nicht sterben, weil die Geschichte weitergehen
musste. So umging ich den Tod.
Die bulgarischen Schriftsteller der Vergangenheit fungierten häufig als
Chronisten. In welcher Tradition sehen Sie sich?
In der Tradition des Ungewissen, erfüllt von Zögern und Neugierde auf die
kleinen Geschichten. Ich widme mich dem Vergänglichen, Flüchtigen und
Unsichtbaren, dem Fragment und dem Minotaurus. Nur das Vergängliche ist es
wert, niedergeschrieben zu werden. Das Ewige gehört einer anderen,
nichtmenschlichen Kategorie an. So ist mein Roman keine historische
Chronik, sondern eine Biografiensammlung.
3 Jun 2014
## AUTOREN
Ruth Renée Reif
## TAGS
Literatur
Rumänien
Schlagloch
Europawahl 2014
Euromaidan
Katja Petrowskaja
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
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