# taz.de -- Kunstausstellung zu Otto Piene: Mehr Raum und Licht, mehr Freiheit | |
> In der Berliner Nationalgalerie wurde das Werk „The Proliferation of the | |
> Sun“ von Otto Piene reinszeniert. Fast wie in den Sechzigern. | |
Bild: Hier in der Version von 1967 zu sehen: Otto Pienes „The Proliferation o… | |
Die Berliner Nacht, so heißt es immer, hält die aufregendsten Dinge bereit. | |
Hier erlebt man das Wildeste, Ungewöhnlichste, Irrsinnigste. Auch wenn das | |
nicht immer stimmt, könnte es zumindest diesen Sommer wahr sein. | |
Wer in den nächsten Wochen einmal nachts an der Neuen Nationalgalerie | |
vorbeiläuft, der wird ein erstaunliches Spektakel beobachten: In Abständen | |
von wenigen Sekunden schießen dort abstrakte Bilder in wildesten | |
Kombinationen von Blau, Braun, Grau, Pink, Gelb, Orange, Rot, Violett durch | |
den Raum, als würde dort gerade etwas Übernatürliches geboren werden. | |
Betritt man das Museum, kommen zu den fast laborhaft wirkenden Farb- und | |
Formimpressionen, die auf diverse Leinwände und auf einen dicken Ballon in | |
der Mitte des Raumes projiziert werden und jeden Besucher als Schatten in | |
sich aufnehmen, das Klicken eines Diaprojektors und laute Ansagen hinzu: | |
„Projectors, please set time at five seconds“ heißt es dort, oder „set t… | |
at 15 seconds“ oder „highest speed“ oder einfach nur „the sun, the sun,… | |
sun“. | |
## Die Sonne kommt näher | |
Die hier aufgeführte Reinszenierung der 1968 erstmals in New York gezeigten | |
Diaarbeit „The Proliferation of the Sun“ („Die Sonne kommt näher“) ist… | |
einer dreiteiligen Retrospektive „More Sky“ des deutschen | |
Avantgardekünstlers Otto Piene. Weitere Stationen sind: eine Ausstellung in | |
der Deutschen Bank Kunsthalle und ein „Sky Art“-Event am 19. Juli, bei dem | |
drei bunte, bis zu 90 Meter hohe Objekte in den Berliner Himmel | |
hochgelassen werden. | |
Die Neue Nationalgalerie, in der schon so manche Kunst in der Weite des | |
Raums ertrank, ist der ideale Ort für diese beeindruckende | |
Multimediaarbeit. Trotzdem hegt der Künstler als Mitbegründer der | |
avantgardistischen Gruppe Zero, die sich in den späten fünfziger Jahren mit | |
der Idee eines radikalen Neuanfangs der Kunst („Zero ist die Stille. Zero | |
ist der Anfang. Zero ist Zero.“) um ihn, Heinz Mack und später Günther | |
Uecker formte, eine gesunde Skepsis gegenüber Museen und überhaupt dem | |
gesamten Betrieb. | |
„Es gibt die Kunstwelt und eine Welt der Kunst“ schreibt er in seiner | |
manifestartigen Schrift „More Sky“. Erstere, so Piene, ist eine Form des | |
Showbusiness, eine Maschine, in der jeder Akteur meint, etwas zu bewegen, | |
wenn er in Wahrheit nur bewegt wird. Die Welt der Kunst hingegen, das | |
ideale Pendant, ist offener, sie umfasst alles und jeden. Der | |
Künstler-Bürger, wie Piene ihn nennt, ist darin ein Vehikel, um Energie | |
freizusetzen, oder anders gesagt: Er schafft dem Menschen ein anregendes | |
Umfeld. | |
## Mitbegründer der Medienkunst | |
Ein bisschen Esoterik, man vermutet es schon, schwingt bei Piene immer mit, | |
nur verhält sie sich so diskret und überhaupt nicht bekehrend, dass sie | |
erträglich und sogar sympathisch ist. Vielleicht weil es ein bisschen | |
beeindruckt, dass ein Mann in seinem Alter (86 Jahre alt), der als | |
Mitbegründer der Medienkunst gilt und über zwei Jahrzehnte als Leiter des | |
Center for Advanced Studies am Massachusetts Institute of Technology (MIT) | |
lehrte, also einer, der mit technischen Daten und Fakten umzugehen weiß, | |
sich einen so einfachen, fast kindlichen Blick auf die Dinge bewahrt hat. | |
Kunstwerke, das sind bei Piene keine Marktobjekte, sondern Energie- und | |
Experimentierfelder, der Betrachter von Kunst betrachtet sie, weil er sich | |
an ihr auftanken kann. Das mag kurz naiv klingen, ist es aber nicht, denn | |
er kann es tatsächlich. Pienes Diashow gibt starke sinnliche Impulse, wer | |
durch das 25-minütige Farb- und Lichtbad watet, fühl sich berauscht, | |
betört, aufgeweckt. | |
Für die Berliner Neue Nationalgalerie, die nach dieser Ausstellung ihre | |
Pforten für mindestens drei Jahre Renovierungsarbeit schließen wird, ist | |
die Wahl ebenso klug wie mutig. Mutig, vor allem wegen der veränderten | |
Öffnungszeiten, die bis Ende August auf 22 bis 3 Uhr nachts verlegt sind, | |
mutig auch, weil der Name Otto Piene trotz wachsendem Interesse an Zero | |
nicht jedem etwas sagt und Diakunst auch altbacken wirken könnte. | |
## Sitzkissen und kleine Bar | |
Klug, weil sie das eben nicht tut, sondern jeden Besucher ganz unmittelbar | |
einbezieht und berührt, egal ob er sich der kunstgeschichtlichen Relevanz | |
bewusst ist oder nicht. Zwar geht die Idee von Udo Kittelmann, dem Direktor | |
der Nationalgalerie, und Kurator Eugen Blum, die Arbeit so zu zeigen, wie | |
man sie auch damals sah, nicht ganz auf, einfach weil sich der | |
staatstragende Glaskasten trotz Sitzkissen und kleiner Bar mit farblich | |
angepassten Cocktails nicht in ein rauchiges Off-Theater des New York der | |
sechziger Jahre verwandelt, nur ist das gar nicht schlimm. | |
Das Erlebnis ist dem von damals wahrscheinlich trotzdem ähnlich (auch wenn | |
das, wie eine Besucherin bemerkt, dort vielleicht noch durch | |
bewusstseinserweiternde Drogen intensiviert wurde). | |
## Bilder gnadenlos in Brand gesteckt | |
Wesentlich ruhiger geht es in der Deutschen Bank Kunsthalle zu, in der man | |
vor allem Arbeiten der Zero-Zeit sieht, jenen Jahren ab 1958, als Piene und | |
Mack in ihrem Düsseldorfer Atelier Ein-Abend-Ausstellungen veranstalteten | |
und neue Wege für die Kunst im Nachkriegsdeutschland erprobten. Statt den | |
Lichtkünstler entdeckt man Piene hier als Rauchkünstler, der seine Bilder | |
gnadenlos in Brand steckte, sie „kochte“, wie er sagt, um, ähnlich einem | |
Lucio Fontana, neue Tiefen und Oberflächenstrukturen auf der Leinwand zu | |
erzeugen. | |
Spektakulärer und wegweisender hätte der Berliner Kunstsommer nicht | |
beginnen können, denn „Mehr Himmel“ heißt im Sinne Otto Pienes am Ende vor | |
allem mehr Raum, mehr Freiheit, mehr Traum. | |
17 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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