# taz.de -- US-Proteste gegen Israel: Juden gegen den Gaza-Krieg | |
> In New York demonstrieren junge Juden für den Frieden. Sie distanzieren | |
> sich von den traditionellen jüdischen Organisationen. | |
Bild: Die jüdischen Demonstranten in New York sind entsetzt über das, was sie… | |
NEW YORK taz | „Zieht etwas Schwarzes an“, steht auf der Einladung bei | |
Facebook. Bei Einbruch der Dunkelheit sitzen mehr als hundert junge Leute | |
auf dem warmen Asphaltboden vor dem Eingang zum Prospect Park. Um sie herum | |
strömt der abendliche Berufsverkehr über die breiten Straßen. | |
Es ist heiß in New York. Unter den schwarzen Oberteilen lugen | |
Minihosenröckchen, Shorts und Sandalen hervor. Juden in aller Welt begehen | |
Tischa be Aw – einen besonders traurigen Gedenktag, der an Zerstörungen und | |
Vertreibungen erinnern soll. In Washington unterschrieb der US-Präsident | |
derweil ein Gesetz über 225 Millionen Dollar zusätzliche „Notmilitärhilfe�… | |
für Israel. | |
New York ist die nach Tel Aviv zweitgrößte jüdische Stadt der Welt. Doch in | |
der einst bedingungslose Unterstützung der 1,1 Millionen Juden in der Stadt | |
für die israelische Regierung zeichnen sich tiefe Risse ab. Neben | |
Friedensdemonstrationen von jüdischen und palästinensischen Gruppen, die | |
gegen den Krieg in Gaza demonstrieren, tauchte die neue Gruppe IfNotNow | |
auf. Sie veranstaltet Kaddisch-Trauergebete für die Opfer beider Seiten. | |
## Sie gedenken der Opfer | |
Sarah Kaplan Gould stützt sich auf einen türkisfarbenen Fahrradhelm. Direkt | |
neben ihr steht eine junge Frau und liest aus den Klageliedern vor. Die | |
Stehende bewegt ihren Körper vor und zurück. Ein junger Mann löst sie ab. | |
Sie sprechen und singen abwechselnd auf Hebräisch und auf Englisch. Es geht | |
um Trauer, um Wut und um Empörung. Am Ende verlesen die Sprecher 177 Namen. | |
Die Runde spricht sie im Chor nach. So gedenken sie der Opfer des | |
zurückliegenden Wochenendes in Gaza – der Palästinenser und der Israelis. | |
Die 23-jährige Sarah Kaplan Gould ist entsetzt über das, was sie das | |
„Versagen der jüdisch-amerikanischen Organisationen“ nennt. Über deren | |
kritiklose Unterstützung für Israel. Sie prangert die institutionellen | |
Freunde Israels in den USA an: die Organisation AIPAC (American Israel | |
Public Affairs Committee), die christlichen Zionisten bis hin zur | |
Rüstungsindustrie und zur US-Regierung. Sarah Kaplan fordert eine | |
Verhandlungslösung im Nahen Osten. „Dies hier ist der einzige Ort, an dem | |
ich sowohl meine Wut als auch meine jüdische Identität leben kann“, sagt | |
die junge Dichterin. | |
Kaplan steht für die Suche nach neuen Ausdrucksformen für linke Juden in | |
den USA. Es ist das Problem einer Generation, die mit Israel als | |
Besatzungsmacht aufgewachsen ist und die zuletzt im Zweijahresrhythmus | |
israelische Militäroperationen in Gaza erlebt hat. Die jungen Leute, die an | |
diesem Sommerabend auf dem Asphalt in Brooklyn sitzen, gehören zu der | |
nachwachsenden Elite der US-amerikanischen jüdischen Gemeinschaft. In ihrer | |
Erziehung waren jüdische Werte – religiöse und kulturelle – wichtig. | |
## „Wir sind gefangen“ | |
Sie haben Schulen und Jugendgruppen besucht, die zur „Community“ gehören. | |
Manche betreuen als Erwachsene zionistische Jugendliche bei | |
Freizeitaktivitäten. Viele haben Hebräisch gelernt, nahmen an den | |
10-tägigen „Birthright“-Reisen teil, mit denen Israel sich der | |
Unterstützung des Nachwuchses aus den USA zu versichern sucht. Viele ihrer | |
Verwandten leben in Israel. Aber ihr Verhältnis zu dem Staat und ihr | |
Verhältnis zu den jüdischen Institutionen in den USA ist anders als das | |
vorausgegangener Generationen. | |
Die 33-jährige Carinne Luck arbeitete in Washington und New York für „J | |
Street“. Die liberale jüdische Organisation versucht bereits seit 2008, | |
Israel zum Stopp des Siedlungsbaus und zu diplomatischen Lösungen zu | |
bewegen. Luck stammt aus einer zionistischen Dynastie und lebt sei 14 | |
Jahren in den USA. Ihr Urgroßvater zog Ende des 19. Jahrhundert nach | |
Palästina. „Wir haben eine tiefe Verbindung zu unserem Jüdischsein“, sagt | |
sie, „aber wir sind weniger in der Tragödie des Holocaust und seinen Folgen | |
gefangen.“ | |
Ihre politischen Adressaten sitzen in New York und Washington. Die jungen | |
Leute wollen das Monopol der Organisationen brechen, die für sich | |
beanspruchten, stellvertretend für die jüdische Gemeinde sprechen zu | |
können. Sie wollen den unterschiedlichen jüdischen Positionen in den USA | |
Gehör verschaffen. | |
„Die jüdische Community muss nicht mit einer Stimme sprechen“, sagt Luck. | |
„Wann, wenn nicht jetzt“, nennt sich die Gruppe, die nach dem Beginn der | |
Bombardements im Juli entstanden ist: „#IfNotNow“ ist ihr Erkennungszeichen | |
bei Facebook und im Internet ([1][ifnot.net]). Alle zwei oder drei Tage | |
spricht sie ein Kaddisch unter freiem Himmel an verschiedenen Orten in New | |
York. Teilnehmer verlesen die Namen einiger Hundert Toter von beiden | |
Seiten. Sie sprechen sich gegenseitig Mut zu. „Wir können nicht ruhen, | |
bevor die Gewalt in Gaza, im Westjordanland und in Israel aufhört.“ „Wir | |
können nicht ruhen, bis es Freiheit und Würde für alle gibt.“ Solche Sätze | |
wiederholt die gesamte Gruppe. Die Technik des „menschlichen Mikrofons“ | |
stammt aus der Occupy-Bewegung. Sie ersetzt das Megafon. | |
## Manche sagen, sie seien geschichtsvergessen | |
In nur zwei Wochen Existenz hat IfNotNow bereits vier Kaddisch-Aktionen in | |
New York organisiert, wobei die Teilnehmerzahl langsam wächst. In mehreren | |
anderen Städten der USA – Boston, Washington und Atlanta – haben | |
Initiativen die „Kaddisch-für-Gaza“-Idee übernommen und ihrerseits bereits | |
Zeremonien abgehalten. Während andernorts auf Demonstrationen, die Israel | |
kritisieren, mit Gegensprechchören und -transparenten reagiert wird, | |
erregen die religiös anmutenden Versammlungungen von IfNotNow Neugierde, | |
mitunter aber gar Ehrfurcht. Niemand ruft dazwischen, niemand hupt, wenn | |
die jungen Leute beten. | |
Dennoch erfordert das Kaddisch für Gaza auch Mut. Manche Teilnehmer | |
berichten, dass Studienkollegen sie als „Juden mit Selbsthass“ bezeichnet | |
haben und ihre Ideen „selbstgerecht“ und „selbmörderisch“ nannten. Man… | |
sagen, sie seien geschichtsvergessen. Der 24-jährige Daniel, der seinen | |
Nachnamen nicht nennen möchte, kennt das Gefühl, das dahintersteckt. „Wenn | |
wir Israel kritisieren, ist die Angst da, die Büchse der Pandora zu | |
öffnen.“ | |
Am Rande eines Kaddischs auf dem Washington Square erzählt ein 29-jähriger | |
Mann, in seiner Familie versuche er gar nicht erst, über den Krieg in Gaza | |
zu diskutieren. „Das gäbe nur Streit“, sagt er. Seit einer Begegnung mit | |
palästinensischen Kollegen hat er selbst erste kritische Gedanken zur | |
israelischen Palästinapolitik entwickelt. Seine Eltern kamen in den 1970er | |
Jahren in die USA. Wie die Mehrheit der aus der Sowjetunion eingewanderten | |
Juden haben sie in dem neuen Land die Ränge der konservativen Freunde | |
Israels verstärkt. | |
Auch die Organisatoren des Kaddischs nehmen ihrerseits für sich in | |
Anspruch, für weite Teile der jüdischen Community zu sprechen. Dabei kann | |
IfNotNow bei Weitem nicht mit den 10.000 Demonstranten mithalten, die Ende | |
Juli mit dem Slogan „New York stands with Israel“ vor die UN gezogen waren. | |
Der 22-jährige IfNotNow-Organisator Yonah Lieberman sagt: „Es ist extrem | |
schwer, gegen Israel aufzustehen – aber es muss getan werden.“ | |
## „Konferenz der Präsidenten“ | |
Mit ihrem ersten Kaddisch für die Opfer von Gaza hat IfNotNow von Anfang an | |
nach ganz oben gezielt: Am 24. Juli versammelten sich mehrere Dutzend ihrer | |
junge Anhänger vor dem Sitz der „Konferenz der Präsidenten“ in Manhattan, | |
des größten Dachverbands jüdischer Organisationen in den USA. Sie beklagten | |
die Opfer beider Seiten, verlasen Namen und legten Steine auf den Asphalt. | |
In einem offenen Brief an den Dachverband verlangten sie, dass er für die | |
Beendigung der Bombardements eintritt. Dann blieben neun | |
Kaddisch-Teilnehmer so lange in der Lobby des Verbandes sitzen, bis sie von | |
der Polizei abgeführt wurden. | |
Anruf beim Dachverband: „Meinen Sie Proteste für Israel oder gegen | |
Israel?“, fragt die Dame am Telefon. Dann stellt sie weiter an Malcolm | |
Hoenlein. Bei diesem Mann laufen seit 1986 sämtliche Fäden der „Konferenz | |
der Präsidenten“ zusammen. Malcom Hoenlein hat mit Generationen von | |
israelischen Premierministern, US-amerikanischen Präsidenten und arabischen | |
Potentaten an einem Tisch gesessen. Er nennt die Kaddisch-Gruppe | |
„marginal“. Er wirft ihr „Einseitigkeit“ vor. Unterteilt die jungen Leu… | |
in „Fehlgeleitete“ und „solche, die die Situation ausnutzen“. Hoenlein | |
bezweifelt auch, dass manche von ihnen aus zionistischen Organisationen | |
kommen: „Haben Sie das überprüft?“, fragt er. | |
Den Generationenkonflikt im Inneren der US-amerikanischen jüdischen | |
Gemeinschaft zum Nahen Osten hält er für ein Übergangsphänomen: „Wenn sie | |
älter werden, kommen sie zurück.“ Doch es gibt auch bei den Protestierenden | |
Ältere. Eine von ihnen ist Donna Gould. Sie wurde 1933 in York geboren. | |
Noch als kleines Kind in einer jüdischen Familie lernte sie während des | |
Zweiten Weltkriegs in New York, dass Palästina ein leeres Land sei, dass | |
auf jüdische Siedler warten würde. | |
Heute spricht sie von der Notwendigkeit zweier Staaten, weil „Palästinenser | |
in Israel nicht frei sind“. Donna Gould kritisiert, dass die US-Regierung | |
„Geld zum Töten“ nach Israel schicke. „Feiglinge“, sagt sie erbost und | |
meint die US-amerikanischen Kongressabgeordneten, die die Bombardements in | |
Gaza nicht kritisieren. Im Alter von 81 Jahren legt Donna Gould jetzt | |
Steine für die palästinensischen und die israelischen Opfer in Gaza nieder | |
und zündet eine Kerze an. | |
6 Aug 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://ifnot.net | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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