| # taz.de -- Leben im Gaza-Streifen: Keine Aussichten auf Zukunft | |
| > Die Bewohner leben auf der Straße. Es gibt kaum Wasser, keinen Strom und | |
| > keine medizinische Versorgung. Essen kriegt nur, wer auf der richtigen | |
| > Liste steht. | |
| Bild: Explosionen und Rauchwolken über Beit Lahia Anfang Juli. | |
| GAZA taz | Gestank von Müll, Rauch und Verwesung hängt über Beit Lahia. Die | |
| Kleinstadt ganz im Norden des Gazastreifens gehörte zu den ersten, die die | |
| Armee zu Beginn des Krieges räumen ließ. Von den Häusern einer Straße | |
| stehen nur noch Gerüste, grau und leer, eingehüllt in dichten Staub. Es | |
| sind Mehrfamilienhäuser, von dem jedes einst Dutzende Menschen beherbergte. | |
| Die Zerstörung ist breitflächig. Mal ist eine Straße betroffen, mal sind es | |
| zwei Parallelstraßen, mal komplette Blocks. Bei den Namen Beit Lahia, | |
| Dschabalia und Beit Chanun im Norden, Rafach und Khan Yunis im Süden, die | |
| Viertel Schedschaija in der Stadt Gaza, Al-Tufach und vielen mehr | |
| verdüstern sich die Gesichter der Menschen aus Angst oder Mitleid. | |
| „Ich stehe nicht auf der Liste, sagt ein Mann. „Vielleicht morgen.“ Eine | |
| Hilfsorganisation verteilt Pakete mit dem Nötigsten, an die, die es | |
| besonders brauchen. Wer auf der Liste steht, kann kommen und sich einen | |
| Karton nehmen mit Milchpulver, Reis, Bohnen, Öl und Mehl. Immer wieder | |
| prüfen ein Vater und sein Sohn die Listen, bevor sich die beiden mit leeren | |
| Händen wieder auf den Weg machen. Die Not ist groß, vor allem unter denen, | |
| die ausgebombt wurden. | |
| Schaban Sukr sitzt auf einem Kissen an der Schwelle, wo einmal sein | |
| Wohnzimmer war. „Ich kann nicht glauben, dass ich noch am Leben bin“, sagt | |
| der 42-Jährige. „Wir waren im Haus, als die Bombardierungen anfingen“, eine | |
| Vorwarnung habe es nicht gegeben. Ringsherum liegen Trümmer und Schutt. | |
| Längst ist Schedschaija, der Name seines Viertels, ein Synonym für | |
| Zerstörung. Das Haus links von der Familie Sukr ist schwarz verkohlt, | |
| gegenüber sind die Fassaden der Gebäude abgerissen, Stützpfeiler drohen | |
| einzustürzen. Zwei Mitglieder der Großfamilie sind bei den Angriffen | |
| umgekommen, ein 15-Jähriger und ein 20-Jähriger. | |
| Sukr ist Vater von sieben Kindern, seine älteste Tochter ist verheiratet | |
| und lebt noch bei den Eltern. Er versteht nicht, was Israel zum Angriff | |
| trieb. „Wir waren völlig überrascht“, sagt er. Es sei „unlogisch“, da… | |
| sich hier, mitten zwischen Wohnhäusern, Kämpfer versteckt hätten. Israel | |
| verbreite Lügen. Dass genau hier auch mehrere israelische Soldaten zu Tode | |
| kamen, die unter den Beschuss einer Antipanzerrakete geraten waren, hält er | |
| für ein Gerücht. | |
| ## Wut gegen Israel und Ägypten | |
| Sukr handelte mit eingemachten Konserven, Trockenfrüchten und gerösteten | |
| Nüssen. Mehrere Säcke mit Erdnüssen lugen unter den Trümmern hervor. „Ich | |
| hatte extra für den [islamischen Fastenmonat] Ramadan Ware eingekauft“, | |
| berichtet er. Mandeln, Pistazien und Melonenkerne lagen schon zum Rösten | |
| bereit. Der Ofen liegt eingebeult auf der Seite, einige Gasflaschen weisen | |
| Kugeleinschüsse auf. Auf mehrere tausend Dollar schätzt der Händler den | |
| Schaden allein an den Geräten. „Ich bin zu größeren Opfern bereit“, sagt… | |
| mit erhobener Stimme. Sukr unterstützt den Widerstand gegen Israel, obschon | |
| er bei Wahlen seine Stimme der Fatah geben würde. Stolz berichtet er über | |
| seinen Cousin Anwar Sukr, der vor 20 Jahren an einem Bombenanschlag in der | |
| Nähe einer israelischen Kleinstadt beteiligt war. Auch die Israelis sollten | |
| wissen, „wie sich das anfühlt“. 21 Menschen kamen damals zu Tode. | |
| Im Haus gegenüber wohnten seine Eltern. Er habe die beiden Alten während | |
| des Angriffs aus einem Loch in der Wand ins Freie ziehen müssen, weil der | |
| Eingang verschüttet war. Von Sukrs Geschäft im selben Haus und der | |
| Büroeinrichtung ist nur noch ein Lehnstuhl übrig und die Haltevorrichtung | |
| für einen Fernseher an der Wand. „Erst wenn es einen anhaltenden | |
| Waffenstillstand gibt, fange ich wieder von vorn an.“ Seine Wut richtet | |
| sich nicht nur gegen Israel, sondern auch Ägypten sei schuld an der Not. | |
| „Die Ägypter sind doch unsere Vetter“, schimpft er. Warum nur ließen die | |
| arabischen Brüder die Palästinenser so im Stich? | |
| ## Akuter Wassermangel | |
| Das Wichtigste sei jetzt, die Frischwasserversorgung wiederherzustellen. | |
| Die Leute versorgen sich mit Kanistern aus großen Tankwagen, mit denen | |
| Hilfsorganisationen in die zerstörten Regionen fahren. | |
| Der Mangel an Frischwasser betrifft den gesamten Gazastreifen, denn es gibt | |
| auch keinen Strom, ohne den das Wasser nicht aus den Brunnen gepumpt werden | |
| kann. Das einzige Elektrizitätswerk hat bei israelischen Angriffen schweren | |
| Schaden genommen, und Raketen der militanten Palästinenser zerstörten | |
| Leitungen, durch die vor dem Krieg Strom aus Israel in den Gazastreifen | |
| floß. | |
| Nicht jeder kann sich wie die Familie Sukr eine Mietwohnung für die | |
| Übergangszeit leisten. Seit drei Wochen lebt Majdi al-Ghula auf der Straße. | |
| „Wir haben vor den Luftangriffen Anrufe bekommen mit aufgezeichneten | |
| Warnungen und Textmeldungen“, sagt die 13fache Mutter. Sie sei trotzdem zu | |
| Hause geblieben, schließlich hätten „alle Leute in Gaza diese Nachrichten | |
| bekommen“. Erst als die Angriffe losgingen, rettete sich die | |
| Mittvierzigerin mit ihren Kindern auf das Gelände des Schifa-Krankenhauses. | |
| Ein paar dünne Matratzen, Plastikstühle, ein paar Teller und eine Teekanne | |
| ist das, was die al-Ghulas noch haben. Unter einem Sonnenschirm und | |
| provisorisch befestigten Tüchern wartet die Familie auf Hilfe. Eine Decke | |
| versperrt Vorbeigehenden den Blick auf die Flüchtlinge. „Wir haben nichts | |
| mehr“, sagt Majdi, „nichts zu essen, kein Geld“. Die verzweifelte Mutter | |
| schickt ihre Kinder zur Moschee, um die frommen Muslime um Nahrungsmittel | |
| zu bitten. | |
| ## Alles ist zerstört | |
| Die Familie war schon vor dem Krieg arm. Der heute 20-jährige Chalil musste | |
| nach der sechsten Klasse die Schule verlassen, um mit Gelegenheitsjobs | |
| etwas dazuzuverdienen. Chalil sitzt auf dem blanken Steinfußboden und | |
| drückt eine Zigarette aus. „Ich habe keine Zukunft“, sagt er bitter. „Al… | |
| ist zerstört.“ Mutter und Sohn sind sich einig, dass allein Israel die | |
| Schuld trägt. „Die Hamas hat keine andere Wahl, als Widerstand zu leisten“, | |
| sagt Majdi. „Gaza ist wie ein Gefängnis.“ | |
| Die Eltern des 15-jährigen Wassim Katab und seines neun Jahre alten Bruders | |
| Ibrahim wollen unter keinen Umständen, dass der Krieg weitergeht. Wassim | |
| liegt mit schweren Verletzungen auf der orthopädischen Station im | |
| Schifa-Krankenhaus, aber er wird wieder gesund werden. Ibrahim hat es | |
| schlimmer getroffen. Die Ärzte mussten ihm den linken Fuß amputieren. | |
| Außerdem hat der Junge lebensbedrohliche Splitter in der Brust und im | |
| Unterleib. „Er muss zur Behandlung in ein ägyptisches Krankenhaus“, sagt | |
| sein Vater Khaled Katab. Seine Frau Chitam sitzt zwischen ihren beiden | |
| verletzten Söhnen auf einem Krankenbett. | |
| Die Kinder waren zu zehnt und spielten auf der Straße, als die israelische | |
| Luftwaffe mehrere Bomben abwarf. Einer der Jungen sei sofort tot gewesen, | |
| ein anderer habe ein Auge verloren, ein dritter ein Ohr. Der zarte Ibrahim | |
| sitzt im Rollstuhl. Er kann kaum reden. Jemand hat ihm einen goldfarbenen | |
| Teddy auf den Schoß gelegt. Seine kleine Schwester kommt und streichelt ihm | |
| das gesunde Bein. „Nimm schon den Teddy“, flüstert er und hält ihn ihr | |
| entgegen, aber sie will lieber das rosa Häschen von Wassim. | |
| Die Eltern sind tapfer. „Ich könnte immerzu weinen“, sagt der Vater leise. | |
| Er macht niemandem Vorwürfe außer sich selbst, dass er die Kinder vor dem | |
| Haus spielen ließ. „Wir hatten das nicht erwartet.“ Die Hoffnung der beiden | |
| Eltern ist, dass Ägypten die Grenze öffnen wird. Die Eheleute verstehen | |
| nicht, warum das nicht schon längst passiert ist. Seit Beginn des Krieges | |
| konnten nur elf Schwerverletzte den Grenzübergang Rafah passieren. „Hier | |
| stirbt keiner vor Hunger, aber an den Verletzungen sterben noch immer | |
| Menschen“, bangt Chitam Katab. Ihre Standhaftigkeit sei rein äußerlich. | |
| „Hier drinnen blute ich“, sagt sie und legt die Hand auf die Brust. | |
| 8 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Knaul | |
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