# taz.de -- Zentralrats-Vorsitzender Telim Tolan über die Situation der Jeside… | |
> Telim Tolan aus Oldenburg telefoniert jeden Tag mit Jesiden in den | |
> umkämpften Gebieten des Nordirak. An eine diplomatische Lösung glaubt er | |
> nicht mehr. | |
Bild: Versucht von Oldenburg aus die Jesiden im Nordirak zu unterstützen: Teli… | |
taz: Herr Tolan, ist der Konflikt im Nordirak in Norddeutschland | |
angekommen? | |
Telim Tolan: Der Konflikt ist extrem präsent in unserem Alltag. Alle | |
Jesiden in Deutschland sind in einem emotionalen Ausnahmezustand. Man kann | |
aber nicht sagen, dass die Gewalt aus dem Irak nach Deutschland | |
überschwappt. Die Stimmung ist zwar aufgeladen, gerade in den sozialen | |
Netzwerken, aber die Situation hier ist nicht einmal annähernd vergleichbar | |
mit der im Nordirak. | |
Übergriffe auf Jesiden in Deutschland gab es aber? | |
In Herford haben Islamisten einen Streit mit einem jesidischen | |
Imbiss-Besitzer und seinen Angestellten provoziert und sie mit Messern | |
verletzt. Das wird von der Polizei jetzt strafrechtlich verfolgt. Aus | |
solchen einzelnen Aktionen sollte aber keine Gefährdungssituation der | |
Jesiden in Deutschland konstruiert werden. Das ist definitiv verfrüht. | |
Haben Sie Kontakt zu Bekannten im Irak? | |
Jeden Tag sogar. Wir wollen uns selbst einen Eindruck von der Situation | |
machen und sprechen auch mit den Menschen im Gebirge und in den umkämpften | |
Gebieten. Viele der hier in Norddeutschland lebenden Jesiden haben | |
Verwandte und Freunde im Irak. | |
Wie stellen diese Freunde die Lage vor Ort dar? | |
Dramatisch. Die Leute haben uns berichtet, dass Menschen lebend begraben | |
oder verbrannt wurden und die Frauen und Mädchen ganz gezielt vergewaltigt, | |
verschleppt oder verkauft wurden. Es ist fast apokalyptisch, was uns da | |
mitgeteilt wird. | |
Wie halten Sie und die anderen Angehörigen der Opfer die Propagandavideos | |
der Islamisten und die grausamen Berichte überhaupt aus? | |
Die jesidische Gemeinde ist verzweifelt. Alle fühlen sich so ohnmächtig, | |
fast traumatisiert. Trotzdem verfolgen sie jede einzelne Nachricht. Viele | |
kommen ins Gemeindehaus in Oldenburg. Das Leid schweißt unsere Gemeinde | |
noch enger zusammen. Auch die Jugendlichen. Viele haben nun zum ersten Mal | |
gesehen, was es bedeutet, wenn ihre Eltern davon sprechen, dass sie in | |
ihrer Heimat verfolgt werden. | |
Und wie gehen die Jugendlichen mit dieser neuen Erfahrung um? | |
Sie wollen helfen. Alle wollen zur Linderung des Leids beitragen und auf | |
die Situation aufmerksam machen – mit Demonstrationen, Infoständen oder | |
durch Pressearbeit. Wir mobilisieren Unterstützung wo es nur geht. | |
Warum verfolgen die Milizen des Islamischen Staates gerade die jesidische | |
Bevölkerung? | |
Diese Fanatiker glauben tatsächlich, dass Jesiden „Ungläubige“ sind, die | |
entweder getötet oder zwangskonvertiert werden müssen. Sie versprechen sich | |
davon einen Platz im Paradies und in ihrer verqueren Weltanschauung sind | |
sie sogar überzeugt, dass sie den vom richtigen Weg abgekommenen Jesiden | |
damit einen Gefallen tun. Mir wurde berichtet, dass die Islamisten ihre | |
Opfer ernsthaft gefragt haben, ob sie zum Islam konvertieren möchten. | |
Fragen oder Zwingen? | |
Niemand weiß, ob die Jesiden dann am Leben gelassen würden. Die Islamisten | |
sind Gangster, Mörder, für die ein Menschenleben keine Bedeutung hat. | |
Außerdem haben die Jesiden jahrhundertelang Verfolgung erlebt und ihre | |
Religion gegen alle Widerstände ausgelebt. Sie sind bereit, dafür zu | |
sterben und ich bewundere diese Courage. | |
Sind auch andere Minderheiten betroffen? | |
Die Christen werden genauso verfolgt und ihre Gotteshäuser zerstört. Aber | |
aus Sicht der IS- Terroristen stehen die Jesiden noch eine Stufe tiefer. | |
Sprechen Sie von einem Genozid? | |
Man muss hier nicht die Toten aufrechnen. Wir wissen, dass es ein Genozid | |
ist, weil wir die Absichten der Islamisten kennen. Sie wollen diese Region | |
ethnisch und religiös säubern. Die Jesiden haben keine andere Wahl, als zu | |
fliehen oder getötet zu werden. | |
Was können Sie von Oldenburg aus ausrichten? | |
Wir bewirken viel, sammeln Spenden für unsere Schwestern und Brüder. Die | |
ganze jesidische Community ist auf den Beinen. Durch unsere | |
Öffentlichkeitsarbeit ist das Thema erst auf die politische Agenda | |
gekommen. Und über die Berichterstattung wurde Druck auf die Regierung und | |
die internationale Staatengemeinschaft ausgeübt. | |
Stehen Sie mit der Bundesregierung in Kontakt? | |
Ja. Am Dienstag haben Vertreter jesidischer Organisationen vor einer | |
gemeinsamen Pressekonferenz eine Stunde lang mit Vize-Kanzler Sigmar | |
Gabriel gesprochen. Er hat sich sehr intensiv mit unseren Sorgen | |
auseinandergesetzt. Die Anteilnahme in der deutschen Politik ist groß. | |
Viele norddeutsche Gemeinden, in denen Jesiden leben, haben sich sofort | |
solidarisch gezeigt. | |
Wird die deutsche Politik im Irak überhaupt wahrgenommen? | |
Die Menschen hoffen sehr auf internationale Hilfe – auch aus Deutschland. | |
Auf die irakische Zentralregierung und auch auf die Truppen der Peschmerga | |
allein vertrauen sie nicht mehr. Die haben gerade zu Beginn des Konflikts | |
überhaupt keine wirksame Hilfe geleistet. | |
Wer sind dann die Verbündeten der Jesiden vor Ort? | |
Gerade am Anfang konnten die herbeigeeilten Kämpfer der kurdischen | |
Volksvertretungseinheit und die jesidische Bürgerwehr viele Jesiden retten. | |
Heute unterstützen uns in der Region wieder die Truppen der kurdischen | |
Peschmerga. | |
Aber die haben die Jesiden doch im Stich gelassen? | |
Erstens fühlen wir uns grundsätzlich mit den Zielen der Kurden verbunden, | |
wir sind ja selbst ethnische Kurden. Und zweitens können wir uns keine | |
Schwarz-Weiß-Malerei erlauben. Die Peschmerga haben ihr Wort nicht | |
gehalten. Sie haben uns militärischen Schutz zugesichert und dann viel zu | |
lange damit gewartet, gegen die Islamisten vorzugehen. Die Jesiden wurden | |
wider besseres Wissen und wider bessere Möglichkeiten im Stich gelassen. | |
Der Tod vieler Menschen hätte verhindert werden können. Trotzdem bleibt uns | |
jetzt keine Wahl. | |
Die Luftangriffe der USA blieben bisher wirkungslos. Die Islamisten konnten | |
nicht gestoppt werden. Was muss jetzt passieren? | |
Die Luftangriffe müssen weitergehen. Es reicht nicht, die Kurden mit Waffen | |
auszustatten und die lösen dann das Problem alleine. Es ist ja auch nicht | |
so, dass die Peschmerga mit Pfeil und Bogen kämpfen. Das trifft bildlich | |
gesprochen eher auf die neu gegründete jesidische Bürgerwehr zu, die | |
versucht, die Fluchtwege in den Bergen zu schützen. Nun braucht es | |
intensivere Einsätze am Boden, denn die Terroristen müssen nicht nur | |
zurückgedrängt, sondern vernichtet werden. Sie formieren sich sonst wieder | |
neu. | |
Also wollen Sie Gleiches mit Gleichem vergelten? | |
Es hat keinen Zweck, auf diplomatische Verhandlungen mit den IS-Terroristen | |
zu setzen. Die einzige Antwort, die sie verstehen, ist die militärische | |
Gegenwehr. | |
Was kann die deutsche Politik tun, um die Situation der Jesiden im Irak zu | |
verbessern? | |
Deutschland kann mit seinem Know-how Hilfsgüter wie Nahrungsmittel, | |
Kleidung und Medikamente in die Region bringen oder Hilfe beim Aufbau von | |
Unterbringungsmöglichkeiten, der Versorgung mit Strom und der Einhaltung | |
von Hygienestandards leisten. | |
Sollte die Bundesrepublik bedrohten Jesiden Asyl geben? | |
Wir würden eine zeitweise Aufnahme von Flüchtlingen begrüßen. Die Türkei | |
kann nicht allein die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge | |
übernehmen. Aber nicht nur Deutschland ist hier gefragt, sondern die EU | |
sollte Verantwortung für diese Menschen übernehmen. | |
Ist auch aus Deutschland militärische Hilfe notwendig? | |
Wir bitten die Bundesregierung, bei der Einrichtung einer Schutz-Zone im | |
Sindschar-Gebiet eine aktive Rolle einzunehmen. Das muss nicht durch | |
militärische Präsenz geschehen, könnte von den Deutschen aber durch | |
Logistik oder technisches Equipment geleistet werden. | |
Und Waffen? | |
Alle Waffen-Lieferungen an die kurdischen Streitkräfte, die dazu dienen, | |
die Schutz-Zone einzurichten und die IS-Terroristen zu bekämpfen, begrüßen | |
wir ausdrücklich. | |
Jahrzehntelang kamen die jesidischen Gemeinden in der deutschen | |
Öffentlichkeit kaum vor, jetzt ist der Konflikt überall präsent. Welche | |
Auswirkungen hat das auf das Leben der Jesiden in Deutschland? | |
Ich wünsche mir, dass wir möglichst schnell wieder zum Alltag übergehen und | |
die Menschen im Nordirak nicht mehr leiden. Um mir über das Leben nach dem | |
Konflikt Gedanken zu machen, fehlt mir gerade die Zeit. | |
Mehr zu den Jesiden in Norddeutschland gibt es in der gedruckten | |
Wochenendausgabe der taz oder am [1][E-Kiosk]. | |
15 Aug 2014 | |
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## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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