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# taz.de -- Jesiden in Norddeutschland: Die zweite Heimat
> In Norddeutschland lebt die größte Exil-Community der Jesiden. Ihre
> Migrationsgeschichte beginnt mit dem Ruf nach Gastarbeitern.
Bild: Große Community: Demonstration der Jesiden am 12. August in Hannover.
BREMEN taz | Das Telefon von Cindi Tuncel steht nicht still. Seit 2011
sitzt er für die Linkspartei in der Bremischen Bürgerschaft. Dass er auch
Jeside ist, zur religiösen Minderheit unter den Kurden gehört, stieß bis
vor Kurzem kaum auf Interesse. Doch derzeit gibt es für Tuncel nur ein
Thema: den Völkermord an seinen Angehörigen im Irak durch die Terroristen
des „Islamischen Staates“ (IS).
Ähnlich geht es Telim Tolan, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Jesiden
in Oldenburg oder Hatab Omar, der in Hannover die „Ezidische Akademie“
leitet. Sie alle kennen sich, sind über Ecken verwandt, denn Jeside wird
man nur durch Geburt.
Und: Die jesidische Exil-Community konzentriert sich in Norddeutschland.
Von den 80.000 bis 100.000 Jesiden in Deutschland wohnen die meisten in
Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Northeim, Göttingen oder Bielefeld
sind jesidische Hochburgen, allein in Bremen leben schätzungsweise 3.000.
Celle gilt sogar als Stadt mit den zweitmeisten Jesiden nach Shingal im
Nordirak.
Das Leben der Jesiden in Deutschland ist geprägt von dem Bemühen um
Verwurzelung in der neuen Heimat, von Vorurteilen gegen eine als
patriarchal geltende „Geheimkultur“ und von der identitären Zerreißprobe,
sich entweder den überwiegend muslimischen Kurden zuzuordnen und dem Kampf
der PKK anzuschließen oder als unpolitische religiöse Gemeinschaft am Tisch
deutscher Integrationsbeauftragter willkommen zu sein.
## Farbfernsehen dank Jesiden
Dass Norddeutschland das Ziel für viele Jesiden bleibt, hängt mit deren
Migrations- und Verfolgungsgeschichte zusammen. Abhängig von ihrem
Herkunftsland, hatten Jesiden mal mehr und mal weniger Probleme, einen
festen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu bekommen.
Die erste große Einwanderungsphase begann in den 1960er-Jahren: Unter den
Gastarbeitern aus der Türkei waren viele Jesiden. Manche gingen nach Celle:
Die Firma Telefunken begann hier 1966 in einem neuen Werk mit der
Produktion von Farbfernsehern.
Zu einer weiteren großen Einwanderung kam es nach dem Militärputsch in der
Türkei im September 1980, als Jesiden wie alle Kurden unter der Diktatur
von General Kenan Evren zu leiden hatten. Das Verwaltungsgericht Stade
erkannte die Jesiden aus der Türkei 1982 erstmals als „Gruppenverfolgte“
an. In den nächsten Jahren folgten weitere Urteile in Niedersachsen, 1989
zog Nordrhein-Westfalen als Bundesland nach. Durch den Nachzug in die
norddeutschen Wohnorte ihrer Verwandten leben heute so gut wie keine
Jesiden mehr in der Türkei.
Nach dem Giftgasangriff Saddam Husseins auf die Kurden im nordirakischen
Halabdscha 1988 und dem zweiten Golfkrieg 1990 flohen wieder vermehrt
Jesiden nach Deutschland. Auch aus Syrien kamen Familien – immer in die
Städte, in denen ihre Verwandten lebten.
## Erstmals freie Religionsausübung
Cindi Tuncel kam 1985 als Achtjähriger mit seinen Eltern und sieben
Geschwistern aus der Türkei. Es sei das erste Mal gewesen, dass sie ihre
Religion frei ausüben konnten, sagt er: „Seitdem ist das unsere Heimat. Ich
bin Bremer.“ Er ging hier zur Schule, studierte soziale Arbeit, ist
mittlerweile in der Integrationsabteilung beim Landessportbund – wenn er
nicht für die Linkspartei Politik macht.
Dass die jesidischen „Gastarbeiter“ aus der Türkei seit den 1980er-Jahren
die rechtliche Perspektive bekamen, in Deutschland zu bleiben, trug zum
sozialen Ankommen in der Gesellschaft bei. Für alle anderen blieb die
Anerkennung als Flüchtlinge weiterhin eine Einzelfallentscheidung. Manche,
etwa aus Syrien, lebten jahrelang mit einer „Duldung“, ohne klare
Perspektive. Das änderte sich erst mit dem Ausbruch des syrischen
Bürgerkriegs 2011.
Bis in der jesidischen Community klar war, dass in Deutschland nichts ist,
wer keinen Verein hat, dauerte es eine Zeit. Anfang der 1990er-Jahre
gründeten sich die ersten jesidischen Kulturvereine. Heute gibt es über 60
Zusammenschlüsse in Deutschland. „Das war neu für die Jesiden“, sagt der
Göttinger Religionswissenschaftler Thorsten Wettich. Eine der wichtigsten
Aufgaben der Vereine und Kulturzentren sei es, Räume für Trauerfeiern zu
bieten.
„Durch die Struktur der Vereine hat sich für die Community viel verändert�…
sagt Wettich. Traditionell teilen sich die Jesiden in drei Kasten: die
Sheikh und Pir als Geistliche und die Muriden als Laien. Veränderung habe
es vor allem bei der Übermittlung religiösen Wissens gegeben: „Diese
Aufgabe fällt traditionell vor allem den beiden Geistlichen-Kasten zu“, so
Wettich. Durch die Übernahme von Verantwortung in den Vereinen hätten sich
nun auch die Muriden aus der Laien-Kaste repräsentativen und pädagogischen
Aufgaben gewidmet. „Dadurch tut sich was“, so Wettich.
## In Deutschland zählen nur Vereine
Einer der ältesten Vereine ist das „Yezidische Forum“ in Oldenburg, das
1993 gegründet wurde. Im Stadtteil Kreyenbrück nahe der Autobahn gelegen,
ist es ein Anlaufpunkt für Jesiden weit über die Region hinaus. Das Gebäude
wirkt von außen wie eine Sporthalle, auch innen lassen nur Fotos aus
Kurdistan und ein üppiges Wandgemälde des heiligen Orts Lalish die
spirituelle Funktion der Versammlungshalle erahnen.
Als sich vor einer Woche syrische Jesiden trafen, um Hilfe für Flüchtlinge
zu organisieren, kamen 50 Familienvertreter aus ganz Norddeutschland. Wer
neben wem und in welcher Reihe saß, war kein Zufall. Dass die Kasten noch
immer bedeutungsvoll sind, wurde klar, als ein junger Mann in lockerem
Sakko und Nike-Turnschuhen den Saal betrat: Sofort machten einige ältere
Männer ihm in der Mitte der ersten Reihe Platz. Er gehörte zu einer der
geistlichen Kasten.
Für den Göttinger Professor Philipp Kreyenbroek gab besonders die
Zuwanderung der Jesiden aus dem Irak seit den 1990er-Jahren einer
Etablierung in Deutschland einen Schub: „Das hat dem Jesidismus eine Stimme
gegeben, weil die Leute aus dem Irak besonders gebildet waren“, so
Kreyenbroek. Er leitet an der Uni Göttingen das Seminar für Iranistik, mit
einem Forschungsschwerpunkt zu kurdischer und jesidischer Kultur. Vor
Jahren hätten ihn noch befreundete Jesiden als Experten aufgesucht, um mehr
über ihre eigene Religion zu erfahren. Das sei nun anders: „Mittlerweile
sind die Jesiden selbst in der akademischen Welt angekommen“, so
Kreyenbroek.
## Fragen der Polizei
Auch die Polizei hatte einst Fragen an ihn, wollte wissen, was es mit
diesen „Teufelsanbetern“ und ihrer „Geheimreligion“ auf sich habe.
Ermittelt wurde gegen Jesiden aus Celle, wegen möglicher Nähe zur PKK. Was
in Deutschland über Jesiden bekannt war, stammte vor allem aus den
Schlagzeilen über die Ehrenmorde, die es gegeben hatte: Etwa an Arzu Ö. aus
Detmold, die 2011 von ihrem Bruder erschossen wurde, der ihre Beziehung zu
einem Russlanddeutschen nicht akzeptierte. „Ehrenmorde kommen im Heimatland
bei den Jesiden fast nie vor“, sagt Kreyenbroek.
Tatsächlich gibt es längt jesidische Wissenschaftler, die für sich selbst
sprechen können. Hatab Omar etwa, der 2009 die „Ezidische Akademie“ in
Hannover gründete. Der Sozialpsychologe forscht mit anderen
Wissenschaftlern über die jesidische und andere Minderheiten – „auch über
Ehrenmorde und Zwangsheirat“, sagt er. Oder über Migrationserfahrungen:
„Durch die historische Verfolgung sind die Jesiden größtenteils
traumatisiert und leiden darunter bis heute“, sagt Omar.
Er sieht die Politik als größtes Integrationshindernis für die Jesiden.
„Einige sagen, dass sie Kurden sind, kurdische Jesiden, jesidische Kurden.
Wir sagen, wir sind Jesiden“, so Omar. Die Akademie sei selbstständig und
neutral, denn: „Wenn sich Ideologie und nationalistische Gedanken
einmischen, besteht die Gefahr, dass die Menschen nicht mehr zusammen leben
können.“
Omar vertritt eine bestimmte Fraktion unter den Jesiden, die sich stark
abgrenzt von der PKK. Schon der Verdacht, der verbotenen kurdischen
Arbeiterpartei nahezustehen, reicht, um in Deutschland politisch im Abseits
zu stehen: Fördergeld bleibt aus, Politiker vermeiden Kontakt.
## Kampf um Kurdistan oder reines Jesidentum
Der studierte Politikmanager Ömer Cengiz aus Delmenhorst sieht das anders.
„Meine Sprache ist kurdisch, meine Kultur ist kurdisch, mein Essen ist
kurdisch, nur meine Religion ist nicht muslimisch“, sagt Cengiz. Auch wenn
die Jesiden jahrhundertelang nicht nur von Muslimen, sondern auch von
muslimischen Kurden unterdrückt worden seien, so sei er Kurde und Jeside.
Cengiz lebt seit 30 Jahren in Deutschland, arbeitet als Dolmetscher und
Dozent für Deutsch als Zweitsprachler. Er ist für einen Kontakt zu den
kurdischen Parteien. Nur so könne man gegen Unrecht angehen – eine Sicht,
die durch die aktuellen Ereignisse im Nordirak unter den Jesiden erstarkt
ist. Viele meinen, einzig die Kämpfer des syrischen PKK-Arms YPG hätten den
Jesiden geholfen, die nordirakischen Peschmerga hätten sie dagegen im Stich
gelassen.
Cengiz findet, die Jesiden bräuchten eine stärkere Vertretung. Der
Zentralrat tue etwas, aber mehr wäre nötig. Mit anderen jesidischen und
christlichen Intellektuellen hat er eine Medieninitiative gegründet, um
aufzuklären.
Cengiz gehört zu einer neuen Generation von Jesiden, die etwa von den
traditionellen Heiratsregeln nicht viel halten: Seine vier Kinder sollen
wie die deutschen Kinder aufwachsen. „Wenn mein Sohn schwul ist oder eine
deutsche Freundin hat, möchte ich damit kein Problem haben“, sagt er. Er
will sich integrieren, es gebe kein Zurück. „Nur die Religion und die
Sprache dürfen wir nicht total vergessen.“
Mehr zu den Jesiden in Norddeutschland gibt es in der gedruckten
Wochenendausgabe der taz oder am [1][E-Kiosk].
16 Aug 2014
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## AUTOREN
Jean-Philipp Baeck
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